"Beim Arbeiten mit Mosaik geht es darum, aus zerbrochenen Teilen im Leben, etwas wertvolles Neues zu gestalten, also was zusammenzusetzen."
Farben, Formen, Glück
Das Gemeinschaft-Atelier „Backstube“, in dem Beate Dizinger tätig ist, befindet sich in Stuttgart-Degerloch. Einladend werden die Besucher*innen von einer alten Holztreppe empfangen, die nach oben führt. Beim Betreten von Beate Dizingers Reich wird die Atmosphäre von ihrer eigenen Kunst durchdrungen. Mosaikskulpturen zieren den Raum und verleihen ihm eine besondere Note. In der Mitte des Ateliers steht ein alter Holztisch voller Farbspritzer, der nicht nur ein praktisches Arbeitsinstrument, sondern auch ein Zeuge zahlreicher kreativer Prozesse ist. Die bunten Farben weisen auf die künstlerische Arbeit im Raum hin. Hier wird nicht nur Kunst geschaffen, sondern auch Glück erlebt und in einem kreativen Austausch geteilt.
Was ist Kunsttherapie?
Kunsttherapie ist ein psychotherapeutisches Verfahren, bei dem Patient*innen sich auf verschiedene Arten künstlerisch betätigen. Beate Dizinger beschreibt es als Ausdrucksform. Im Gestaltungsprozess entstehe ein Kunstwerk, das der kunstschaffenden Person als innerer Spiegel dient. Wenn man malt oder gestaltet, kehre man den Blick nach innen. Man kann das mit Yoga oder Meditation vergleichen, meint Dizinger. Die Patient*innen fokussieren sich dabei auf das Kunstwerk und sich selbst. Laut einer Studie des Instituts für Psychologie der Universität Erlangen-Nürnberg verändern sich in diesem Prozess die Gehirnstrukturen. Die positive Wirkung des kreativen Schaffens wirke sich auf die Einstellung im Gehirn aus und führt dadurch zu einer besseren psychischen Widerstandsfähigkeit und einem allgemeinen Wohlbefinden. Das bedeutet einen besseren Umgang mit Stress und Krisen. Für die Patient*innen sei die Kunsttherapie ein innerer Entwicklungsprozess, der bei kontinuierlicher Teilnahme besonders wirksam ist.
Laut der Akademie für ganzheitliche Gesundheitsbildung „Campus Naturalis“ setzen sich die Patient*innen während des Kunstschaffens mit ihren Gefühlen auseinander, ob bewusst oder unbewusst. Indem Sie ihre Emotionen besser zu steuern wissen, erleben sie vielfältige Veränderungen. Diese können ein gesteigertes Selbstwertgefühl und eine höhere Selbstkontrolle sein. Außerdem werden Heilungsprozesse angestoßen und die Betroffenen setzen sich intensiver mit ihrer Vergangenheit auseinander. Dadurch fällt es ihnen leichter, die Ursachen ihrer Erkrankungen zu erkennen.
Beruf aus Leidenschaft
Beate Dizinger gewährt einen Einblick in ihre Lebensgeschichte und erklärt, wie ihre Leidenschaft für Kunst sie zu dem Beruf als Kunsttherapeutin geführt hat. Als ursprünglich gelernte Krankenschwester wagte sie den Schritt in die Welt der Architektur. Sie musste ihr Architekturstudium abbrechen, als sie ihr zweites Kind erwartete. Die Herausforderungen der Mutterschaft führten sie zu einer entscheidenden Selbstreflexion über ihre beruflichen Ambitionen. „Kunsttherapie war dann später, als die Kinder etwas größer waren. Es war die Verbindung zwischen Architektur und Krankengeschichte“, erklärt sie. Aktuell liegt ihr Schwerpunkt auf Burnout und Suchttherapie, und sie arbeitet in ihren Therapiestunden hauptsächlich mit Mosaik. Nachdem sie einige Jahre das Mosaikhandwerk vernachlässigt hatte, fand sie wieder dazu zurück. Vor allem durch ihre neu aufgelebte Freude und die meditative Wirkung von der künstlerischen Arbeit mit Mosaik.
Wie kann Kunst glücklich machen?
Beate Dizinger ist davon überzeugt, dass Kunst Glück bringt. Ihre Arbeit mit Mosaik betrachtet sie als eine Methode, um „aus den zerbrochenen Teilen des Lebens etwas Neues und Wertvolles zu gestalten“. Es gehe darum, die Narben ein Stück weit zu heilen. Das Arbeiten mit und an Mosaik repräsentiert für sie die Individualität jedes einzelnen Steinchens.
Sie hebt die soziale Interaktion und die gemeinsame Kunstschöpfung hervor, die in der Gruppe stattfinden. Die Teilnehmer*innen der Therapie unterhalten sich während der Sitzung sowohl über private Angelegenheiten als auch über ihre jeweiligen psychischen Belastungen. Diese gemeinsamen Erfahrungen würden zu gemeinsamen Glück und einem positiven Einfluss auf das individuelle Wohlbefinden führen. Durch Gestalten, Bild- und Farbwahl könne man sich ausdrücken und in Kommunikation mit anderen treten. Kunst sei somit ein Medium, das nicht nur individuelles Glück fördert, sondern auch den Austausch und die Verbindung zwischen Menschen ermöglicht.
Für Dizinger bedeutet Kunst, im Hier und Jetzt zu sein, ähnlich wie bei Meditation und Yoga. Sie sagt, dass eine regelmäßige künstlerische Betätigung, ob einmal im Monat oder mehrmals in der Woche, zu nachhaltigen Glücksmomenten führen kann. Gleichzeitig betont sie, dass es nicht nur um das Resultat geht, sondern darum, Spaß am Prozess zu haben. Sie ruft dazu auf, die Freude am kreativen Tun zu erleben: „Was glücklich macht, ist, wenn wir mehr wahrnehmen und achtsamer mit uns umgehen“, erzählt sie.
"Was glücklich macht, ist, wenn wir mehr wahrnehmen und achtsamer mit uns umgehen."
Die Herausforderungen bei Kunsttherapie
Trotzdem stoßt Beate Dizinger in ihrer Rolle als Kunsttherapeutin oftmals auf Herausforderungen – eine davon ist folgender Satz: „Ich kann nicht malen.“ Viele Menschen haben negative Erfahrungen mit Kunst gemacht, seien es schlechte Erlebnisse in der Schule oder das Gefühl, dass Malen nur etwas für Kinder sei. Sie erkennt die Hemmungen und Vorurteile und versucht, ihren Patient*innen zu vermitteln, dass es bei der Kunsttherapie nicht um Leistungsdruck geht. Es gehe nicht darum, ein perfektes Bild zu schaffen, sondern darum, sich auszudrücken, zu experimentieren und im besten Fall in einen kreativen Flow zu kommen.
Eine typische Therapiesitzung
Der Ablauf einer typischen Therapiesitzung beginnt mit einem kurzen Einstieg, gefolgt von einer Empfindlichkeitsrunde, in der die Teilnehmer*innen ihre aktuellen Gemütszustände teilen können. Danach wird kreativ gestaltet. Am Ende der Sitzung findet eine Abschlussrunde statt, in der besprochen wird, wie es jedem Einzelnen während der Therapiesitzung ergangen ist. Jeder hat die Gelegenheit, etwas zu seiner gestalterischen Arbeit zu sagen.
Ihr Therapieansatz basiert auf der Idee, dass das kreative Gestalten ein Weg ist, um über bestimmte Themen zu sprechen und sich selbst auszudrücken. Die Patient*innen können während der Sitzung ihre Gedanken, Ängste und Hoffnungen durch ihre künstlerische Arbeit zum Ausdruck bringen. „Die Beziehung zwischen dem Therapeuten und dem Patienten spielt dabei eine entscheidende Rolle“, erzählt sie. Somit schaffe man eine vertrauensvolle Umgebung, in der die Teilnehmer*innen sich öffnen können.
In jeder Sitzung, die etwa 1,5 Stunden dauert, schafft Beate Dizinger eine einladende Atmosphäre, die Menschen jeden Alters von 18 bis ins hohe Alter zusammenführt. Ihre Herangehensweise zeichnet sich durch bemerkenswerte Flexibilität aus – ein Raum, in dem Teilnehmer*innen die Freiheit haben, sich zu separieren oder einen anderen Platz zu wählen, um ihre kreativen Impulse bestmöglich zu entfalten. Die Rückmeldungen aus den Therapiesitzungen sind durchweg positiv. Teilnehmer*innen berichten von einer tieferen Verbindung zu sich selbst, einer entspannenden Wirkung und der Sitzung als einer wahren Oase der Entspannung. Es ist nicht nur die Kunst, die entsteht, sondern auch die spürbare Atmosphäre der Gemeinschaft und Selbstentfaltung.
Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers „Brücken und Barrieren in der Kunst“. Zu diesem Dossier gehört auch die Episode „Musik ist therapeutisch für mich“ bei „edit.erklärt“ und das Video Accessoires für Prothesen: Normalisierung durch Design.