Die Strategien hinter Trash-TV
Seit den 90ern ist Reality-TV aus Deutschlands Wohnzimmern nicht mehr wegzudenken. Einst als „Trash-TV“ belächelt, hat es sich zu einem der erfolgreichsten und profitabelsten Genres des deutschen Fernsehens entwickelt. Ob Doku-Soap, Dating-Format oder trashiger Wettkampf – Reality-TV liefert den Zuschauern genau das, wonach sie suchen: Drama, Intrigen und echte Emotionen.
Die Zahlen sprechen für sich
Ein Drittel der Sendezeit:
2023 machten Formate wie „Der Bachelor" und „Love Island" bei RTL, Sat.1 und VOX mehr als 30 % der gesamten Sendezeit aus – Spitzenwerte von bis zu 40 %.
Hohe Quoten bei junger Altersgruppe:
Das Dschungelcamp 2024 erzielte durchschnittlich über 5 Millionen Zuschauer:innen und 34,9 % Marktanteil bei den 14- bis 49-Jährigen. Zum Vergleich: Nur etwa 1,37 Millionen der 14- bis 49-Jährigen haben 2024 täglich zur tagesschau eingeschaltet. Das entspricht einem Marktanteil von rund 30 Prozent.
Schwäche der fiktionalen Formate:
Serien und Filme können oft nicht mithalten – ihre Marktanteile bleiben meist unter 15 %.
RTL+ setzt Maßstäbe:
RTL+ verzeichnete 2023 zwei Allzeitrekorde: Der erfolgreichste Januar und der zweitbeste März aller Zeiten dank Hits wie „Ich bin ein Star“, „Are You The One“, „Prominent getrennt“ und „Der Bachelor“. Im Mai wurde RTL+ zum zweitmeist genutzten Streamingdienst in Deutschland.
Rekordzahlen 2023:
Zu viele gleichzeitige Zugriffszahlen bei RTL+ brachten die Plattform an ihre Grenzen – die Webseite war zeitweise offline.
Psychologie des Hypes: Warum wir Reality-TV lieben
Was macht dieses Genre so unwiderstehlich, dass es Menschen immer wieder in seinen Bann zieht? Warum schalten Millionen ein, um fremden Menschen dabei zuzusehen, wie sie sich verlieben, streiten oder blamieren?
Psychologin Dinah Gutermuth hat dafür eine klare Antwort. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen analysiert die 34-Jährige im Podcast „Trashologinnen“ die beliebtesten Formate aus einer wissenschaftlichen Perspektive – und taucht dabei tief in die Köpfe der Zuschauer*innen ein. Es sind unsere psychologischen Bedürfnisse, die Reality-Formate so beliebt machen, verrät Gutermuth im Interview. Eines dieser Bedürfnisse sei der sogenannte „Abwärtsvergleich“. Man fühle sich selbst kurzzeitig besser, wenn man Leuten zuschaut, bei denen es in Sachen Beziehung schlechter läuft“, stellt sie klar. Es stecke jedoch weitaus mehr hinter der großen Beliebtheit, als nur die altbekannte Fremdscham. Auch die Identifikation mit den Kandidat*innen spiele eine wichtige Rolle. Mit einer bunten Palette an verschiedenen Charakteren könne sich jede*r in bestimmte Personen einfühlen. Außerdem stelle der Konsum von Trash TV häufig eine gewisse Ersatzbefriedigung dar. „Man kann Leuten dabei zu sehen, wie sie etwas ausleben, das wir vielleicht auch gerne ausleben würden, weil man sich zum Beispiel nicht traut“, so Guthermann. Aus diesem Grund sei auch der Hype um Reality-Formate gerade während der Corona-Zeit so groß gewesen. Und dann ist da noch unser heimlicher Spanner-Instinkt: „Wir wollen Menschen in ihren intimsten Momenten sehen, vergleichen – und uns selbst vergleichen. In unserem alltäglichen Leben können wir das nicht“, sagt die Psychologin.
Reality-Star unplugged: Tim Kühnel lüftet die Geheimnisse des Genres
Bei manchen ist die Faszination für die Formate jedoch so groß, dass es nicht beim Zuschauen bleibt. Einer von ihnen ist Tim Kühnel. Der 27-Jährige mischte sowohl bei „Prominent getrennt" als auch bei „Are You The One? Reality Stars in Love" kräftig mit und hat sich als fester Bestandteil der Szene etabliert. Was als Scherz unter Freunden begann, führte ihn ins Rampenlicht – und zu wichtigen Lektionen. „Man muss sich treu bleiben“, betont er. „Die Zuschauer merken sofort, wenn du nicht echt bist.“ Reality-TV sieht Tim als Ventil in einer leistungsorientierten Gesellschaft. „Wir leben in einem Land, in dem Erfolge alles zählen. Trash-TV ist das Gegenteil: abschalten, nicht nachdenken.“ Mit einem Augenzwinkern bringt er es auf den Punkt: „Man sieht in den Shows überwiegend Leute, die einen kompletten Dachschaden haben – und genau das macht es so unterhaltsam.“
Tim weiß, wie man im Reality-TV nicht nur mitmacht, sondern auffällt. „Das Wichtigste ist, dass dir Kameras egal sind“, erklärt er. „Viele verlieren vor der Kamera ihre Lockerheit. Deshalb testen die Produktionen schon beim Casting, wie du dich vor der Linse verhältst.“ Doch damit allein ist es nicht getan. Laut Tim muss man vor allem eines mitbringen: Unterhaltung. „Egal, ob du lustig, laut oder chaotisch bist – du brauchst etwas, das die Leute catcht“, sagt er. „Manche lieben dich, andere halten dich für eine komplette Red Flag – und das ist völlig okay“, sagt Tim mit einem Schmunzeln. „Wichtig ist, dass du Emotionen auslöst. Dabei spielt es keine Rolle, ob du der Sunnyboy bist oder mit jedem in der Show anbandelst.“
Von Rollen und Dynamik: Was Reality-TV wirklich inszeniert
Besonders faszinierend findet Tim, wie gezielt Produktionen unterschiedliche Charaktere zusammenbringen, um Spannung zu erzeugen. „Die Castings sind darauf ausgelegt, Dynamik zu schaffen. Es wird geschaut, wer potenziell für Konflikte sorgt, wer für romantische Spannung – und wer für die Lachmomente.“ Er erklärt, dass dieses Prinzip oft bewusst eingesetzt wird: „Bei Formaten wie „Love Island VIP" werden Ex-Partner oder frühere Flirts gezielt ins gleiche Haus geschickt. So entsteht automatisch Drama – und das ganz ohne Drehbuch.“ „Aber wer behauptet, der Schnitt sei schuld an seinem schlechten Image, hat nicht verstanden, wie das läuft. Geschnitten wird nur, was du ihnen auch gibst“ – das steht für Tim fest. Er selbst habe in verschiedenen Shows ganz unterschiedliche Rollen eingenommen – mal der Schwiegermutterliebling, mal der Partygänger. „Das Setting macht viel aus. Nach drei Jahren Beziehung wollte ich bei „Are You The One?" einfach meinen „Hot Boy Summer" in vollen Zügen genießen. Bei „Prominent getrennt" war ich der Gechillte – auch das hat funktioniert“, ergänzt er mit einem Lächeln.
Das Kleingedruckte im Rampenlicht
Reality-TV ist mehr als Unterhaltung – es ist ein strategisches Spiel. Verträge regeln nicht nur die Vergütung, sondern auch die zukünftige Nutzung der Inhalte. Medienrechtler Martin Huff, der sich in den vergangenen Jahren bereits mehrfach mit den juristischen Aspekten der Branche befasst hat, rät dabei zur Vorsicht: „Wer zum ersten Mal als Verbraucher und nicht als Promi in so eine Sendung geht, ist sich der Reichweite nicht bewusst. Die Weitergabe des Rechts am eigenen Bild sollte man sich sehr genau überlegen “, sagt der Jurist. Auch können in solchen Verträgen einschränkende Bindungen an Sender oder Wettbewerbsverbote geregelt werden. Tim Kühnel ergänzt, dass diese vor allem bei Streamingplattformen wie Netflix eine große Rolle spielen. „Wenn du einmal dort bist, bist du für andere Plattformen gesperrt“, erklärt er. „Die meisten Verträge laufen aber nicht mit dem Sender, sondern mit der Produktionsfirma. Und die sind oft ziemlich streng“, verrät Tim. Doch genau dann sei es entscheidend, die eigenen Interessen zu vertreten. Huff rät deshalb dazu, TV-Verträge immer mit einem Experten genau zu betrachten.
Aber auch die Wahl der Formate will gut überlegt sein, betont Kühnel. „Es ist wichtig, sich nicht verheizen zu lassen.“ Die Teilnahme an Formaten sieht er als strategische Chance zur Weiterentwicklung – allerdings nur, wenn sie wirklich Sinn ergibt. Tim betont: „Es geht nicht darum, in jeder Show dabei zu sein, sondern die Shows zu finden, die wirklich zu einem passen. Nur wer seine Auftritte clever plant, bleibt langfristig relevant und verhindert, dass das Publikum sich satt sieht.“ Es sei ein Balanceakt: Sichtbarkeit schaffen aber nicht zur Gewohnheit für Zuschauer*innen zu werden.
Reality-Fädenzieher: Die Netzwerke hinter dem Phänomen
Es ist also alles andere als Zufall, welche*r Kandidat*in, wann an welchen Formaten teilnimmt. Hinter den Kulissen läuft ein Netzwerkspiel, das den Erfolg der Formate und Karrieren erst möglich macht. Genau hier kommt unsere Netzwerkanalyse ins Spiel: Wir haben die Staffeln von zehn beliebten deutschen Trash-TV-Shows und ihre Kandidat*innen zwischen 2020 und 2024 untersucht. Es zeigt sich: Nur wenige schaffen es, sich in der Branche zu etablieren. Von allen 697 Teilnehmenden waren gerade einmal 51 bei mehr alls einer Staffel dabei. Das visualisierte Netzwerk zeigt ihre Karrierewege. .
Eine genauere Analyse ergibt, dass nur 35 Prozent von ihnen in dieser Zeit die Sendergruppe gewechselt haben. Ob dies mit vertraglichen Bindungen zusammenhängt oder es sich um ganz individuelle Entscheidungen der Kandidat*innen handelt, bleibt dabei offen. Die meisten Karrieren starten jedenfalls bei den Big Playern – meist RTL – und führen später in kleinere Formate. Diese bieten zwar eine geringere Reichweite, profitieren jedoch von der Bekanntheit der Stars, die ihnen neuen Glanz verleihen. Kandidat*innen wie Tim Kühnel beginnen oft in großen Shows wie „Love Island" und tauchen später in Nischenformaten wie „La Familia – House of Reality“ auf.
RTL: Der Platzhirsch im Reality-Game
Mehr Shows, mehr Hype: RTL ist die Heimat des Reality-Dramas. Während andere Sender wie ProSieben oder Sat.1 zwar mitmischen, schaffen sie es nicht, an die Reichweite und Wiedererkennbarkeit von RTL-Formaten heranzukommen. Mit Formaten wie „Der Bachelor", „Das Dschungelcamp" oder „Das Sommerhaus der Stars" bietet der Sender nicht nur Unterhaltung, sondern auch eine Plattform für Stars in spe. Die Shows sind geschickt miteinander verknüpft: Kandidat:innen wechseln nahtlos von einer Show zur nächsten, ihre Geschichten entwickeln sich weiter – und das Publikum fiebert mit. RTL+ verstärkt den Effekt: Exklusive Inhalte wie Behind-the-Scenes-Material und Bonusfolgen sorgen dafür, dass Kandidaten auch nach den Shows sichtbar bleiben.
Die Ergebnisse sprechen für sich: Zwischen Januar und Mai 2024 erzielte RTL 1,3 Milliarden Euro Bruttowerbeumsätze – mehr als jeder andere deutsche Sender. Die Mischung aus hoher Quote, aktiver Zuschauer*innenbeteiligung und cleverer Promotion macht RTL zum Vorreiter in Sachen Reality-TV.
Warum Reality-TV viel mehr ist als nur Trash-Content
Reality-TV lebt von Emotionen, Konflikten und Menschen, die uns berühren. Doch im Hintergrund wird strategisch agiert, wodurch Netzwerke entstehen, die den Hype erst möglich machen. Unsere Analyse bestätigt: RTL ist nicht nur Marktführer, sondern auch die Star-Schmiede im Reality-Business. Die meisten Karrieren starten hier – und die wenigen, die wechseln, tragen den Glanz der großen Formate mit sich. Reality-TV ist eben nicht nur Drama vor der Kamera, sondern auch ein gut durchdachtes Netzwerk-Spiel hinter den Kulissen.
Für die Netzwerkanalyse wurden die Teilnehmenden aller Staffeln von zehn ausgewählten Shows zwischen 2020 und 2024 erhoben. Den kompletten Datensatz, sowie das Codebuch kann man auf GitHub einsehen.