„Wir sind schon kleine Wunder!“
Leben mit nur einem X
Auf Basis einer Entzündung kam es bei Antje Angermüller zu einer Schilddrüsenüberfunktion. Durch diese Entzündung war ihre Schilddrüse stark vergrößert und wurde deshalb untersucht. Anschließend wurde bei ihr in der Uniklinik Göttingen eine Chromosomenanalyse gemacht. Dabei wird über eine Blutprobe ermittelt, ob die Chromosomen in der Anzahl oder der Struktur verändert sind. Für die Analyse werden die Zellen zunächst vermehrt und dann unter dem Mikroskop untersucht. So erfuhr Antje mit 13 Jahren von ihrer Erkrankung am Turner-Syndrom.
Frau Angermüller, wann haben Sie die ersten Symptome der Krankheit bemerkt?
Generell habe ich zum Glück sehr wenig vom Krankheitsbild mitbekommen. Aufgehängt hat es sich eben an der Schilddrüsenüberfunktion. Zudem bin ich nicht von selbst in die Pubertät gekommen. Sonst habe ich nur den typischen Kleinwuchs, einen etwas tiefen Haaransatz, rechts einen verkürzten Ringfinger und den schildförmigen Brustkorb.
Und wie hat sich die Diagnose auf die Beziehung zu sich selbst ausgewirkt?
Ich habe lang nicht begriffen, was meine Krankheit eigentlich bedeutet. Trotzdem habe ich deutlich gemerkt, dass etwas anders ist. Ich habe mich stark zurückgezogen, weil ich mit bestimmten Situationen hoffnungslos überfordert war. Nach und nach habe ich einen Schutzwall um mich aufgebaut.
Gab es während Ihrer Pubertät eine prägende Situation?
Während meiner Ausbildung in der Kinderkrankenpflege saß ich im Unterricht und habe mit Anfang 18 mein eigenes Krankheitsbild um die Ohren gepfeffert bekommen. Da hofft man dann nur, dass die anderen einem das nicht ansehen.
Weil es zum Zeitpunkt ihrer Diagnose noch keine Wachstumshormone gab, wurde Antje Angermüller zunächst wegen ihrer Schilddrüsenüberfunktion behandelt. Erst später wurden Medikamente zur Wachstumsförderung eingesetzt. Als das Wachstum beendet war, wurde mit 15 Jahren die Pubertät durch eine Hormontherapie eingeleitet.
Wie sind Sie damit umgegangen, als das Turner-Syndrom bei Ihnen festgestellt wurde?
Ich habe mich anfangs nicht damit beschäftigt, mich zurückgezogen und mich irgendwie durchgemogelt. Nach meinem Realschulabschluss hatte ich gegenüber anderen Leuten mit Unsicherheiten zu kämpfen. Diese Unsicherheiten sind bis heute geblieben.
Wie hat die Krankheit Ihre zwischenmenschlichen Beziehungen beeinflusst?
Ich bin bis heute lieber allein. Partnerschaften haben bei mir nie funktioniert. Ich war in jeder Beziehung sehr zurückhaltend und ängstlich. Je älter ich werde, desto besser kann ich einschätzen, wie ich mit Beziehungen umgehen kann. Aber es war immer sehr schwierig für mich. Privat wie auch beruflich.
Wenn Sie sagen, dass es auch beruflich schwierig war. Inwiefern hat die Krankheit Ihr Berufsleben erschwert?
Unter den Kolleg*innen, mit Patient*innen und auch mit Ärzt*innen gab es immer wieder Situationen, die ich nicht einschätzen konnte und womit ich überfordert war. Da waren viele Situationen, die mich viel Kraft gekostet haben, um die Ausbildung überhaupt zu Ende bringen zu können. Das habe ich dann aber gut geschafft.
Wie haben Sie die Diagnose verarbeitet?
Ich habe das alles erst sehr spät aufgearbeitet. Erst mit Ende 20, als privat und beruflich gar nichts mehr ging, habe ich eine Langzeittherapie begonnen. Für diesen Schritt habe ich sehr lange gebraucht. Erst in der Therapie habe ich begriffen, dass ich mich verschlossen habe. Und meine Eltern haben gedacht, es ist alles gut.
Durch ihre Therapie ist Antje Angermüller mit der Turner-Syndrom-Vereinigung e.V. in Kontakt gekommen. Seit 2018 übernimmt sie dort für die betroffenen Mädchen und Frauen das Beratungstelefon, um eine Kontaktmöglichkeit in geschütztem Rahmen anbieten zu können.
„Jeder wird seinen Weg mit der Erkrankung finden und finden müssen.“
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Welchen Tipp haben Sie für Betroffene, die gerade erst von ihrer Erkrankung erfahren haben?
Schauen, dass man im Elternhaus darüber sprechen kann. Das Elternhaus bietet die Basis, wie ich mit der Krankheit umgehe. Jungen Mädchen rate ich den Kontakt zu Gleichaltrigen. Auch professionelle Unterstützung durch Therapie rate ich jedem. Heutzutage gibt es viel Unterstützung, die es früher nicht gab. Sorgsam-offen mit der Krankheit umgehen und nicht direkt jedem von der Krankheit erzählen, auch als Elternteil. Bei Bedarf auf bestimmte Symptome aufmerksam machen, auf die zum Beispiel als Aufsichtsperson geachtet werden muss und die Diagnose selbst erst bei bestehendem Vertrauensverhältnis erwähnen.