„Wenn Menschen nicht wissen, woher sie Informationen bekommen, können wir lange darauf warten, dass sie sich politisch engagieren.“
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Ganz vorne, auf einer kleinen Bühne, stehen fünf rote Stühle aus Samt. Neben ihnen, jeweils das Namenskärtchen der dazugehörigen Gäste: Ryyan Alshebl der Bürgermeister von Ostelsheim im Landkreis Calw. Argyri Paraschaki-Schauer, die Geschäftsführerin des Landesverbands der kommunalen Migrantenvertretungen Baden-Württemberg (LAKA), sowie Derya Şahan, Abteilungsleiterin in der Fachstelle Extremismusdistanzierung im baden-württembergischen Demokratiezentrum. Auf dem vierten Namensschild steht Mehmet Ildeş. Der 22-Jährige ist Vorsitzender der Initiative „Local Diversity“ aus Stuttgart. Seit sechs Jahren ist er bereits in der Politik aktiv, der nächste Schritt für ihn: Die Kommunalpolitik. Die geladenen Gäste des Abends sind von Grund auf verschieden, doch in einer Sache gleich – alle setzen sie sich für Vielfalt in der Kommunalpolitik ein. Zwischen den Eingeladenen sitzt Vatan Ukaj ehemaliges Jugendgemeinderatsmitglied und Gründer von WERTansich(t), der heute durch den Abend führt.
„Im Gegensatz zu Geheimtreffen, die in Gaststätten stattfinden, ist dies ein öffentliches Treffen, bei dem jeder willkommen ist“, so startet Moderator Vatan Ukaj die Podiumsdiskussion des Abends. Gerade in Zeiten wie diesen sei es nochmal wichtiger geworden, sich für die Vielfalt in unserer Demokratie einzusetzen. Nicola Roth, die Direktorin des Fritz-Erler-Forums Stuttgart, begrüßt die anwesenden Zuschauer im Raum und hinter den Bildschirmen, indem sie sagt, dass Demokratie bedeute, Teil von etwas zu sein, und wer Teil von etwas sein wolle, müsse dies auch können. In Kooperation mit der Volkshochschule Stuttgart lud sie heute zu einer Podiumsdiskussion zum Thema „Teil sein und mitentscheiden! Wie gestalten wir Teilhabe in der Kommune?“ ein. Heute Abend unterscheidet sich Mehmet vor allem durch sein Alter. In Stuttgarts Kommunalpolitik ist er oft auch aufgrund seiner Migrationsgeschichte in der Minderheit.
In Baden-Württemberg haben über 33 Prozent der Menschen eine Migrationsgeschichte. Allerdings deckt sich dies nicht mit der Anzahl derer, die im Landtag, Gemeinde- und Ortsräten oder in Bürgermeister*innen Ämtern vertreten sind, so die Veranstalter. Aber wieso ist Diversität und Repräsentation auf Kommunaler Ebene so wichtig? Heute Abend soll besprochen werden, woran diese Unterrepräsentation in der Kommunalpolitik liegt und was dagegen getan werden kann.
Repäsentationskluft
„Männlich, Hochschulabschluss, kein Migrationshintergrund – so sieht der durchschnittliche Amts- und Mandatsträger in der Kommunalpolitik aus“, heißt es in einer Meldung der Universität Duisburg-Essen, die in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung, eine Studie durchgeführt hat. Hierbei wurden im Jahr 2022 erstmals in allen Großstädten Deutschlands und überparteilich etwa 2.000 Kommunalpolitiker*innen befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Anzahl der kommunalpolitischen Amts- und Mandatsträger*innen mit migrantischer Geschichte über die letzten Jahre zwar zugenommen hat, es sich aber dennoch deutliche Repräsentationslücken abbilden. Obwohl sie einen Anteil von 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, sind sie in den untersuchten Kommunen mit nur 13 Prozent politisch vertreten (im Bundestag mit 11,3 Prozent).
Zum Anteil von Repräsentant*innen mit Migrationsbezug in Stuttgart hingegen gibt es kaum öffentliche Zahlen. Mehmet geht laut eigenen Angaben aktuell von etwa 15 Prozent aus. Dies sei viel zu wenig, findet auch Argyri Paraschaki. Menschen mit Migrationsbiografien fehle es oftmals an Zugang zur Politik. Dem benötigten Wissen, welches schlussendlich zur Teilhabe führt. Auch Derya Şahan schließt sich diesem Punkt an und erläutert die Realität vieler Migrant*innen. Vor allem Menschen aus älteren Generationen, die nach Deutschland kommen, hätten erstmals ganz andere Probleme, als sich mit kommunalpolitischen Themen auseinanderzusetzen oder sich gar selbst politisch zu engagieren. Somit ist es ihnen auch meist nicht möglich, dieses nicht vorhandene Wissen an ihre Kinder weiterzugeben. Als Mutter einer 14-jährigen Tochter versucht sie, ihr das aktuelle Tagesgeschehen näherzubringen. Zusammen schauen sie Nachrichten und tauschen sich darüber aus. Dies sei allerdings längst nicht der Standard. Hinzu kommt der häufig verwehrte Zugang zur Politik. „Wenn Menschen nicht wissen, woher sie Informationen bekommen, können wir lange darauf warten, dass sie sich politisch engagieren“, sagt sie. Es brauche Angebote, die die Menschen ab Tag eins abholen.
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Neben seinem Studium gründeten er und vier weitere junge Stuttgarter*innen im Mai 2023 den Verein Local Diversity. Durch Bildungsworkshops sollen vor allem junge Leute dazu empowert werden, sich für ihre eigene Stadt einzusetzen. Regelmäßig besucht er mit seinem Team Schulklassen, um ihnen die teilweise sehr komplexe Kommunalpolitik zu erklären. Besonders auch in Außenbezirken. Gerade in den Schulen, in denen oftmals etwas weniger Bildungsarbeit betrieben wird, möchte er aufklären. Seine eigene politische Karriere fand ebenfalls ihren Ursprung in der Schule. Damals mit 14 Jahren fiel Mehmet durch sein außergewöhnliches Interesse für Politik auf und sein Lehrer erzählte ihm vom Jugendgemeinderat Stuttgart. Dort ist er nun schon längst kein Unbekannter mehr. Schon seit acht Jahren sitzt Mehmet regelmäßig in Sitzungssälen, führt Workshops und nimmt an Podiumsgesprächen teil.
„Es gibt die Politik oben und unten, aber wir möchten in der Mitte zwischen beiden stehen.“
Doch auch über Social Media versucht er junge Menschen zu erreichen. Beispielsweise möchte er dort erklären, wie Wählen überhaupt funktioniert. Gerade jetzt im Superwahljahr lässt sich sehr schnell der Überblick verlieren. Gemeinderatswahlen finden zwar nur alle fünf Jahre statt, aber im Gegensatz zur Bundestags- oder Europawahl funktionieren sie ganz anders. Gewählt werden so viele Personen, wie Sitze vorhanden sind. Jede Partei oder Wahlvereinigung tritt mit je einer Liste an. In Stuttgart haben Wahlberechtigte die Chance, auf verschiedene Art und Weise insgesamt 60 Stimmen zu vergeben. Mehmet wünscht sich, dass alle besser über die aktuellen Stadtgeschehnisse Stuttgarts informiert sind. Besonders junge Menschen sollen mitreden können und nicht nur „die da oben“, wie er es nennt, alles allein beschließen. Genau das ist auch der Ansatz des Vereins: „Es gibt die Politik oben und unten, aber wir möchten in der Mitte zwischen beiden stehen.“ Einerseits möchten sie Bildungsbeauftragte in der Kommune sein und andererseits als Expert*innen in der Politik stattfinden. Wichtiger Bestandteil dabei ist es, den Menschen und ihren Bedürfnissen zuzuhören, damit man sie besser versteht. Mehmet steht für Vielfalt ein und möchte zeigen, dass „wir es alle schaffen können, egal ob Migrationsgeschichte, egal Mann oder Frau oder Menschen mit Behinderung oder andere mit marginalisierten Gruppen.“
Der Weg zur Kommunalwahl
Als jüngster Kandidierender unter den ersten zehn Plätzen auf der Liste für den Gemeinderat tritt Mehmet zu den kommenden Kommunalwahlen am 9. Juni 2024 an. Nach jahrelanger Erfahrung im Stuttgarter Jugendgemeinderat war es für ihn der nächste Schritt, einer Partei beizutreten. „Da hatte ich einfach das Gefühl, die werden auch meine Meinung respektieren und mich als Mensch sehen, und nicht nur als der Mensch mit Migrationsgeschichte, der bei uns aktiv ist“, beschreibt er seinen Weg zur Wahl der für ihn richtigen Partei. So wie Landwirtschaftsminister Cem Özdemir oder die baden-württembergische Landtagssprecherin Muhterem Aras möchte auch er ein Vorbild sein. Für sich persönlich sieht er einen Sinn darin, das Thema Repräsentation gemeinsam mit anderen Betroffenen voranzubringen. So auch mit seinem kleinen Bruder Miran. Ebenfalls wie Mehmet damals sitzt er im Jugendgemeinderat. Zu sehen, wie sich sein großer Bruder politisch engagiert, hat ihn motiviert, selbst aktiv zu werden. Als einziger 16-Jähriger lässt auch er sich bei den kommenden Gemeinderatswahlen aufstellen. Dies ist möglich, weil es im März letzten Jahres eine Änderung des Kommunalwahlrechts in Baden-Württemberg gab. Somit dürfen junge Leute ab dem sechzehnten Lebensjahr nicht nur selbst wählen, sondern bekommen ebenfalls sie Möglichkeit, sich in Gemeinderäte, Kreistage und Verbände in der Region Stuttgart aufstellen zu lassen. Welche wichtige Rolle vor allem junge Leute in der Kommunalpolitik spielen, zeigt Mehmet mit seinem Engagement.
Politik ist keine Einbahnstraße
Sich für andere mit ähnlicher Geschichte einzusetzen, sollte nicht nur Aufgabe Betroffener sein. Auf die Frage, was Menschen ohne Migrationshintergrund tun können, fällt Şahan direkt eine Liste an Dingen ein. „Zugänge schaffen, auf Leute zugehen, diese zu politischen Events mitnehmen“, sagt sie wie aus der Pistole geschossen. Es scheint, als wäre dies eine Sache, für die längst mehrere Lösungsansätze bereitliegen – dennoch scheitert es an der Umsetzung. Man müsse „Menschen an die Hand nehmen“ und sie mit einbeziehen. Einen Stuhl weiter sitzt Ryyan Alshebl. Er selbst floh 2015 von Syrien nach Deutschland. Nur acht Jahre später wählte ihn die Gemeinde Ostelsheim zum ersten Rathauschef mit syrischen Wurzeln in Baden-Württemberg. Dies sei ein Beispiel dafür, dass es auch funktionieren könne. Primär müsse klar sein, dass Politik keine Einbahnstraße ist. Ebenso müsse man aufhören, der migrantischen Gesellschaft eine gewisse Bringschuld zuzuweisen. „Nicht nur Migrant*innen müssen auf andere zugehen.“ Es ist genauso auch nötig, dass die anderen, auf sie zugehen. Somit soll ein beidseitiges Aufeinander treffen stattfinden, ergreift Sahan wieder das Wort. „Ein Austausch“, schaltet sich Paraschaki in die Diskussion mit ein. Immer wieder ertönt laute Zustimmung aus dem Publikum. Zusammengekommen sind hier heute Menschen aus allen verschiedenen Bereichen. Menschen, die schon länger aktiv sind und aber auch junge Leute, die es noch werden wollen.
Auch Mehmet kennt diese zuvor angesprochene Erwartungshaltung anderer. Oftmals wird verlangt, dass er sich aufgrund seiner Herkunft speziell nur für dieses Thema einsetzt. Als Sohn kurdischer Eltern, die Anfang der 2000er nach Deutschland gekommen sind, aufgewachsen in einfachen Verhältnissen, habe er schließlich eine Expertise in diesem Bereich. Dies findet er zwar einen nachvollziehbaren Gedankengang, aber trotzdem möchte er die Chance bekommen, auch andere Seiten von sich zu zeigen. Durch sein Wirtschaftswissenschaftsstudium interessiert er sich beispielsweise dafür, wie man die Wirtschaft nachhaltiger gestalten kann.
„Da habe ich immer das Gefühl, ich muss mich beweisen, denn ich bin anders. Ich bin nicht nur jung, sondern habe auch noch eine Migrationsgeschichte.“
In seinem Engagement fühlt er sich manchmal auf dieses Attribut reduziert. „Da habe ich immer das Gefühl, ich muss mich beweisen, denn ich bin anders. Ich bin nicht nur jung, sondern habe auch noch eine Migrationsgeschichte“, beteuert er. Er glaubt, diese Ansichten entstehen aus Nichtwissen, weil man zu sehr mit seinen eigenen Herzensthemen beschäftigt ist. Dies sei erst einmal nichts Falsches. Dennoch kennt er aber auch die Schattenseite: Migrantische Themen geraten in den Hintergrund und werden somit nicht ausreichend berücksichtigt.
Sitzplatzreservierung
Durch das Votum der Grünen Jugend und seiner jahrelangen Erfahrung konnte sich Mehmet einen guten Platz auf der Liste der Grünen für die kommende Wahl sichern. Sollte er gewählt werden, möchte er noch weitere Stühle neben sich im Saal freimachen. Dazu gibt er ein sinnbildliches Beispiel: Man stelle sich eine Person im Rollstuhl vor, die sich durch Stuttgart bewegt. „Wenn ich durch die Stadt laufe, sehe ich nicht, ob der Bordstein zu hoch oder etwas an der Straße kaputt ist, ich kann sie leicht überqueren“, erklärt er. Für Rollstuhlfahrer*innen ist dies allerdings nicht der Fall – für sie ist der Bordstein zu hoch und die Hürde nur schwer zu überwinden. Genauso sei es auch in der Politik: Menschen haben verschiedene Expertisen und Meinungen zu Themen. Gerade deswegen ist Mehmet überzeugt, dass es politische Lösungen und Teilhabe braucht, um mehr Menschen mit diversen Perspektiven eine Bühne zu bieten.
Das Gespräch auf der heutigen Bühne allerdings ist vorbei. Die Zeit ist um, doch die Diskussion noch längst nicht zu Ende. Noch ein letztes Mal greift Ukaj zum Mikrofon: „Wir sind nicht fertig geworden und genauso soll es sein. Wir dürfen nicht fertig sein, über dieses Thema zu sprechen!“