Angehörigenpflege 6 Minuten

Wie eine Kerze, die langsam erlischt

Kind steht hinter seinem Vater, der im Rollstuhl vor dem Fernseher sitzt.
Wenn das Wohnzimmer zum Pflegezimmer und der Rollstuhl zum ständigen Begleiter wird. Pflege ist eine der zentralen Fragen unserer Generation. | Quelle: Theresa Brenner
21. Mai 2025

Halt, Hingabe, Herz: Pflege bedeutet nicht nur Aufopferung, sondern auch einem geliebten Angehörigen sein Zuhause bis zuletzt zu erhalten. Mit nur 20 Jahren gibt die Diagnose ihres Vaters Maries Leben eine 180 Grad Wendung. Ab jetzt wird sie ihn pflegen. Aber wie ist das eigentlich, wenn man zum Elternteil seiner Eltern wird?

7 Uhr morgens – Tabletten, Wasser aus der Schnabeltasse und ein Lächeln, das langsam schwerer wird. Marie*, 29, kennt das Geschenk der Angehörigenpflege – aber auch die Last, die dahinter steckt: Gemeinsam mit ihrer Familie hat die frisch gebackene Mutter und Ergotherapeutin ihren Vater fünf Jahre lang bis zu seinem Tod in den eigenen vier Wänden gepflegt. Ein Interview über starken Zusammenhalt und eine Liebe, die alles trägt.

Marie, du hast deinen Vater gepflegt. Dafür bist du zurück nach Stuttgart gezogen?

Ja, ich war für meine Ausbildung in Leipzig. Im letzten Ausbildungsjahr, 2016, bekam mein Papa die Diagnose „Kortikobasale Degeneration“, ein atypisches Parkinson-Syndrom, das rapide bergab geht. Das hat meine Entscheidung beeinflusst, zurück nach Stuttgart zu gehen, sonst wäre ich wahrscheinlich in Leipzig geblieben. Es ging ihm immer schlechter und wir brauchten eine Lösung. Ich wollte da sein und helfen.

Stichwort „Lösung“: Wie habt ihr die Pflege organisiert?

Ein Arzt meinte, dass wir das nicht allein stemmen können. Wir haben einen ambulanten Pflegedienst dazugeholt, der bei der Morgenroutine geholfen hat. Für wenige Wochen hatten wir auch eine 24-Stunden-Pflegekraft, mit der aber keiner gut zurechtkam. Vor allem Mama hat sich nicht mehr wohlgefühlt mit einer fremden Person im Haus. Das wollten wir anders schaffen – aber wie?

Kortikobasale Degeneration

Bei der neurodegenerativen Erkrankung „Kortikobasale Degeneration (CBD)“ handelt es sich um eine seltene Form der atypischen Parkinson-Syndrome. Bei den Betroffenen lagern sich Bestandteile des Tau-Proteins im Gehirn ab (Tauopathie), wodurch dessen Funktionsfähigkeit kontinuierlich stärker beeinträchtigt wird. Zu den Symptomen zählen unter anderem diverse motorische Störungen und erhebliche Störungen des Gangs, eine Steigerung der Muskeleigenreflexe und kognitiver Abbau.

(Quelle: Medlexi)

Also seid ihr alle in die Pflege eingestiegen?

Ja, meine Schwester und ich sind eingesprungen. Ich habe auf der Arbeit zwei Tage reduziert und Mama hat Freunde organisiert, die geholfen haben. Mein Freund hat manchmal auch übernachtet und ihn gepflegt. Papa hat ziemlich Schwäbisch gesprochen, mein Freund kommt aus Brasilien und wenn jemand krank ist, versteht man ihn erst recht nicht gut. Aber es war schön zu sehen, dass viele Menschen einspringen und es probieren. Wir hatten einen sehr engen Zusammenhalt.

Die Pflegegrade eins bis fünf stufen Betroffene nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit ein. Dein Papa hatte den höchsten Pflegegrad, war schwerst beeinträchtigt, weswegen viele Aufgaben anfielen. Wie sah ein typischer Alltag aus?

Papa ist gegen 7 Uhr aufgewacht und hat Medikamente und Frühstück bekommen. Natürlich gehört auch die Körperpflege dazu, vor allem Windeln wechseln, duschen und die Morgen- und Abendroutine. Jeden Tag stand Therapie an: Logopädie, Physio- und Ergotherapie. Wir haben ihn an die Bettkante gesetzt und mobilisiert. Papa war sehr ehrgeizig, wollte wieder rauskommen, etwas erleben.

Für Personen, die nicht mehr mobil sind, ist das eine große Herausforderung. Konntet ihr ihm diesen Wunsch erfüllen?

Ja, wir sind oft im Rollstuhl rausgegangen. Es war ein Riesenakt: Bis du ihn angezogen und in den Treppenlift gesetzt hattest, war er schon wieder erschöpft. Aber wir haben den Alltag gelebt und das Leben zu ihm geholt, solange es ging.

Maries Geschichte ist kein Einzelschicksal. Die Pflege von Angehörigen betrifft in Deutschland knapp 4,9 Millionen Menschen. | Quelle: Statistisches Bundesamt, Grafik: Theresa Brenner

Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland hat sich in den letzten 20 Jahren fast verdreifacht. Das liegt jedoch nicht ausschließlich am demografischen Wandel, sondern auch an einem veränderten Verständnis der Pflegebedürftigkeit. Durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff von 2017, wird nicht mehr zwischen einerseits körperlichen Einschränkungen sowie andererseits kognitiven und psychischen Einschränkungen unterschieden. Diese neue Definition stellt den individuellen Pflege- und Unterstützungsbedarf in den Vordergrund und umfasst mehr Menschen.

(Quelle: Pflege-Netzwerk Deutschland, Statistisches Bundesamt)

Wie hast du gelernt mit intimen Pflegesituationen umzugehen?

Es gab viele Momente, von denen ich nie dachte, dass ich das mal mache. Aber man wächst in die Aufgaben rein, macht es aus Liebe. So intensiv könnte ich das wahrscheinlich auch nicht für jeden Menschen tun. Die Person, die da liegt, ist unendlich dankbar, zuhause gepflegt zu werden und dort sterben zu dürfen. Das war immer Papas größter Wunsch und das hat uns motiviert.

Fühlt sich dieser Wunsch auch wie eine Pflicht an?

Ich glaube schon, dass Pflegebedürftige unterbewusst einen großen Druck auf ihre Angehörigen ausüben können. Gerade am Ende haben wir öfter darüber geredet, wie lange wir noch durchhalten. Wenn es nicht mehr geht, dann ist es so, dann muss Papa in ein Pflegeheim. Das wollten wir aber nicht, weil der menschliche Kontakt da nicht so intensiv wie zu Hause ist. So viel Liebe und Pflege, wie von uns, kann man von keiner externen Person erwarten. Das macht es umso schwieriger abzugeben. Aber es kostet sehr viele Ressourcen, die Pflege daheim aufrechtzuerhalten.

Wie seid ihr und euer Umfeld mit dieser mentalen Belastung umgegangen?

Meine Mama hat immer gesagt, es ist wie eine Kerze, die langsam erlischt. Ein harter, aber passender Spruch. Man hat gesehen, wie sich seine Fähigkeiten Stück für Stück abgebaut haben. Ein Jahr vor Papas Tod hatten wir ihn wegen der Patientenverfügung gefragt. Aber es war zu spät, er hat es nicht mehr richtig verstanden. So eine schwerwiegende Entscheidung zu treffen, was jedem gesunden Menschen schon schwerfallen würde, ging nicht mehr.

Vor allem unser enger Umkreis hat uns mental gestützt, wir haben offen über alles geredet. Ich glaube aber, es gibt in unserer Gesellschaft nach wie vor eine Unbeholfenheit bei traurigen Themen und dem Tod. Ich als Angehörige würde mir wünschen, dass die Leute fragen, wie es einem geht, denn auch traurige Themen haben einen Raum.

„Ich glaube aber, es gibt in unserer Gesellschaft nach wie vor eine Unbeholfenheit bei traurigen Themen und dem Tod.“

Marie

Was würdest du einer Person raten, die auch vor der Entscheidung steht: Heimpflege, ja oder nein?

Wenn du allein bist, gehst du zugrunde. Frage dich, ob dich dein Umfeld unterstützt. Jemand der zum Beispiel einkaufen geht, damit du auch etwas Freizeit hast. Man schafft eine Pflege auf keinen Fall allein.

Was hast du für dich aus dieser intensiven Zeit mitgenommen?

Wir haben als Familie alles getan, um es Papa trotz des Leidens so schön wie möglich zu machen. Darum geht es mir gut damit. Der Schmerz wird wahrscheinlich immer dableiben, aber man lernt damit umzugehen und wächst auch daraus, wird reifer und schätzt viele Dinge anders. Eine Freundin hat mal gesagt, alles habe einen Sinn, auch wenn ich diesen Sinn vielleicht nicht in Worte fassen kann.

*Der Name der Protagonistin wurde aus Gründen des Schutzes der Privatsphäre geändert.

Hinweis: 
Du bist auch betroffen? Der Bundesverband „wir pflegen e.V.“setzt sich als Interessensvertretung und Selbsthilfeorganisation für pflegende Angehörige ein. Über Online-Treffen oder die App „in.Kontakt“ kannst du dich mit anderen Betroffenen austauschen, Erfahrungen teilen und Unterstützung finden.