„Solange du unter meinem Dach lebst, gelten meine Regeln.“
Aufwachsen zwischen Regeln, Familie und Tradition

Hinweis
Dieser Beitrag ist Teil eines Dossiers zum Thema "Erziehung".
Außerdem zum Dossier gehören folgende Beiträge:
Ich erinnere mich an einen dieser seltsamen Kindertage, an denen alles still war, besonders ich. Ich sprach kein Wort. Nicht mit den Erziehern, nicht mit den Kindern, nicht einmal, als meine Mutter vor mir stand und mich aufforderte, zu reden. Zuhause redete ich ununterbrochen, aber hier schwieg ich. Meine Mutter war fassungslos. Das Jugendamt wurde eingeschaltet. Eines Tages kam sie selbst in den Kindergarten, wollte die Situation mit eigenen Augen sehen. Sie bat mich zu sprechen, die Erzieher*innen versuchten es auch, doch ich blieb stumm. Nach einer Weile nahm sie mich an der Hand und ging mit mir zum Auto. Dort zeigte sie mir einen kleinen, gepackten Koffer im Kofferraum. Dann sagte sie: „Wenn du jetzt nicht sprichst, bringe ich dich zu den Eseln, wo die unartigen Kinder hinkommen“. Ich begann, zu weinen. Zurück im Kindergarten, sprach ich. Halb stotternd, halb schluchzend. Ab diesem Tag sprach ich. Und das ununterbrochen.
Tief verwurzelt in Familie und Tradition
Doch um zu verstehen, warum meine Mutter damals so handelte, muss man einen Blick in unsere familiären Wurzeln werfen. Erziehung war bei uns nie nur Privatsache, sie war geprägt von Herkunft, Tradition und den Erfahrungen einer ganzen Generation.
Meine Mutter wuchs als ältestes von fünf Kindern in einer kleinen Wohnung auf. Die Räume waren eng, die Verantwortung groß. Schon früh kümmerte sie sich um die Geschwister, während die Eltern arbeiteten. Im Grundschulalter zog die Familie von Apulien (Region in Italien) nach Deutschland, mit kaum Sprachkenntnissen und vielen Hürden. Ihr Vater, mein Nonno („Großvater“), war streng, pflichtbewusst und einer alten Schule verpflichtet.
Italienische Werte wie Sprache, Kultur und Pünktlichkeit waren ihm heilig. Respekt und Familie standen für ihn an oberster Stelle. Wer zu spät kam, bekam Hausarrest. Lügen? Undenkbar. Probleme wurden offen angesprochen, nicht verschwiegen. Bildung war eher nebensächlich, Schulanwesenheit aber wichtig. Mein Nonno sagte oft: „Solange du unter meinem Dach lebst, gelten meine Regeln.“ Dieser Satz stand sinnbildlich für sein Verständnis von Autorität und Ordnung. Meine Mutter arbeitete schon früh, um die Familie zu unterstützen. Meine Nonna („Großmutter“) war das Gegenstück: weichherzig, schützend und fürsorglich.
Mein Vater stammt ebenfalls aus Apulien und wuchs als viertes von sechs Kindern in einer sehr religiösen Familie auf. Die große Schwester übernahm eine erziehende Rolle und bestrafte auch mal. Die Familie legte Wert auf klare Worte, ohne zu streng zu sein. Jeden Sonntag und an kirchlichen Feiertagen ging die Familie gemeinsam in die Kirche. Bildung war wichtig, doch mein Vater begann früh zu arbeiten und besuchte keine weiterführende Schule. Respekt sowie religiöse und menschliche Werte standen im Mittelpunkt seiner Erziehung.
In beiden Familien lernten die Kinder früh, selbständig zu handeln und Verantwortung zu übernehmen.
Laut einer Studie von Annapia Cancellaro an der Universität in Padua ist die italienische Familie weit mehr als nur ein Zuhause, sie ist ein festes Netzwerk aus Generationen, das Halt gibt und prägt. Während junge Menschen in anderen Ländern früh unabhängig werden, bleiben italienische Kinder oft bis ins Erwachsenenalter im Elternhaus. Wirtschaftliche Unsicherheiten spielen eine Rolle, doch auch kulturelle Traditionen sorgen für diesen engen Zusammenhalt.
Wie Cancellaro in ihrer Analyse betont, ist die italienische Erziehung oft von einem Spannungsverhältnis zwischen Nähe und Autorität geprägt. Jugendliche nehmen ihre Eltern häufig als fürsorglich, aber zugleich fordernd wahr. Auch traditionelle Werte wie Respekt, familiärer Zusammenhalt und klare Rollenverteilungen spielen dabei eine zentrale Rolle, Merkmale, die sich deutlich in der Erziehung meiner Eltern widerspiegeln.
Respekt zeigt sich im Vertrauen
Die italienische Erziehung hat sich verändert. Früher dominierten Regeln und Disziplin die famiglia etica („ethische Familie“), heute zählt in der famiglia affettiva („liebevolle Familie“) die emotionale Nähe. Väter treten aus ihrer traditionellen Rolle als strenge Autoritätspersonen heraus und übernehmen zunehmend eine unterstützende Funktion, ein Wandel, der zum Teil auch in meiner Erziehung zu spüren war, denn bei uns trafen beide Formen aufeinander.
Trotzdem gab es bei uns klare Regeln, die nicht zur Diskussion standen. Ehrlichkeit stand an erster Stelle. Lügen kamen bei uns nicht durch. Wer nicht die Wahrheit sagte, musste sich erklären. Diese Werte waren eng mit dem Glauben meiner Eltern verbunden. Besonders meinem Vater war das wichtig. Sonntage und kirchliche Feiertage verbrachten wir in der Kirche.
Ich erinnere mich an den Abenden, an dem wir mit dem Bus in die Stadt fuhren. Eigentlich wollten wir nur ein bisschen rumlaufen und was essen. Dort trafen wir ein paar Leute aus der Schule, die noch abhängen wollten. Ich wusste, dass ich um neun zuhause sein sollte. Mama sagte immer: „Wenn du länger draußen bist, musst du mir Bescheid geben.“ Also rief ich sie an und sagte, dass ich noch ein bisschen draußen blieb.
Sie war nicht verärgert, sondern erleichtert, dass ich ehrlich war. Das war für uns normal. Es ging nicht um Kontrolle, sondern um Vertrauen. Genau das bedeutete für uns auch Respekt.
Lernen fürs Leben
In der Schule ging es meinen Eltern nicht nur um Noten, sondern vor allem um unsere Einstellung. Beide haben früh gearbeitet und keine Ausbildung abgeschlossen. Deshalb wollte meine Mutter immer, dass wir es besser machen und unser Potenzial nutzen. „Lernen ist eine wichtige Grundlage für den Beruf und das Familienleben in der Zukunft“, wiederholte meine Mutter oftmals.
Meine Eltern unterstützten uns dabei stets und stehen auch heute noch hinter uns. Wenn mal eine Arbeit schief ging, war meine Mutter nicht wütend, sondern eher enttäuscht, weil sie wusste, dass wir es besser können. Genau diese Erwartung hat uns motiviert, beim nächsten Mal unser Bestes zu geben.
Urlaub zwischen Heimat, Familie und Tradition
Donnerstag war der letzte Arbeitstag meiner Eltern. Das Auto ist bereits vollgepackt, Papa befestigt die Dachbox sorgfältig auf dem Wagen. Nach einer kurzen Pause am Nachmittag machen wir uns am Abend endlich auf den Weg. Die Vorfreude ist riesig, alle sind aufgeregt. Während die Kilometer hinter uns liegen, spüren wir, wie die Stimmung steigt. Sobald wir die Grenze nach Italien überquerten, schaltete ich das italienische Radio ein. Das war der Klang von Heimat.
An den sonnigen Tagen, bei Temperaturen über 40°C fuhren wir gemeinsam ans Meer. Der Sand war noch kühl, die Luft schon warm. Wir breiteten unsere Handtücher aus, stellten die Kühltasche in den Schatten und rannten los ins Meer.
Gegen Mittag wurde es stiller. Die Sonne stand hoch, und wir packten das Zelt aus und spannten es auf, steckten die Stangen in den Sand, legten Decken darunter. Mama holte die noch warme Lasagne hervor, wir saßen eng zusammen und aßen mit großem Appetit. Miteinander erzählten wir uns Geschichten, lachten und teilten den schönen Moment. Anschließend gab es frisches Obst und zum Abschluss kalten Kaffee aus der Kühltruhe, wie üblich. Nachdem wir uns zum Meeresrauschen ausruhten, sprangen wir mit großer Freude ins Wasser, sammelten Muscheln und bauten Sandschlösser. Für uns war das kein Urlaub, sondern ein Stück Zuhause, das wir jedes Jahr aufs Neue lebten.
Werte und Wünsche zwischen Generationen
In einem Gespräch mit meinen Eltern wurde schnell klar, wie stark ihre eigene Kindheit ihre Erziehung geprägt hat. Mein Vater legte besonders großen Wert darauf, die religiösen Werte, die er selbst erfahren hat, an uns weiterzugeben. Für meine Mutter war es dagegen wichtig, dass wir nicht so streng erzogen werden, wie sie selbst und dass wir mehr Freiheit bekommen. Sie wollte, dass wir als Familie mehr Zeit miteinander verbringen und gemeinsam etwas unternehmen.
Gleichzeitig betonte sie, wie wichtig es ist, sich von Problemen fernzuhalten und sich nie mitreißen zu lassen. Trotzdem waren sich beide einig, dass Familie und gegenseitiger Respekt die Basis unseres Zusammenlebens sind.
Erst später wurde klar, warum ich im Kindergarten so still war. Eine Erzieherin behandelte mich unfair, doch das wusste damals niemand. Nur meine Mutter glaubte an mich. Dieses Erlebnis war ein Wendepunkt. Heute können wir darüber lachen, auch wenn es ihr manchmal noch leid tut. Werte wie Respekt, Familie und unsere Kultur begleiten mich bis heute. Für diese Erziehung bin ich dankbar und es gibt mir Freude, genau diese Werte weiterzutragen.