„Spiritualität ist ja eigentlich auch nur eine Glaubensrichtung.“
Die Zukunft in den Karten
Ich scrolle durch meine For-You-Page auf TikTok, als mir ein Video des Accounts „traumkanal“ ins Auge fällt. Eine junge Frau sitzt vor einem schlichten, schwarzen Vorhang in einem Raum, dessen blaue Wände nur spärlich beleuchtet sind. Während sie ihre Tarotkarten mischt, fallen einige Karten heraus. Sie beginnt mit sanfter Stimme die Bedeutung der Karten zu erklären, als würde sie Antworten aus einer anderen Welt erhalten. Die Atmosphäre ist ruhig und mystisch. Die Zuschauer*innen zeigen Dankbarkeit und Neugier in ihren Kommentaren und loben die junge Frau für ihre vermeintlichen Fähigkeiten.
Hinter diesem scheinbar magischen Moment könnte sich auch eine Schattenseite verbergen, warnt die Autorin Katharina Nocun, die das Buch „Gefährlicher Glaube - die radikale Gedankenwelt der Esoterik“ geschrieben hat. Die Faszination für das Unbekannte und das Versprechen von Antworten und Führung könnten leicht in Abhängigkeit und Täuschung umschlagen. Sie betont, dass Menschen ihre Realität aus den Augen verlieren und sich in einer Welt voller Illusionen verlieren können.
Die Welt der spirituellen Influencer
Der TikTok-Account „traumkanal“ hat über 100 Tausend Follower*innen und zählt damit zu den erfolgreichen Profilen im Bereich der Esoterik. Die Frau, die dahintersteht, ist Elisabeth Scheffler. Sie trägt eine Kette mit einem großen Kristall als Anhänger, als sie erklärt, dass ihre Reise in die Spiritualität schon früh begann: „Das begleitet mich schon mein Leben lang“, sagt sie. „Das habe ich auch von meiner Mama, die mich da so ein bisschen hineingeführt hat.“ Dies legte den Grundstein ihrer Faszination für spirituelle Praktiken, schon im Alter von 14 Jahren begann sie, Tarotkarten zu legen. Heute ist das nicht nur ihre Leidenschaft, sondern auch ihr Beruf. Sie nutze ihre Kenntnisse, um Menschen bei Fragen zu Themen wie Liebe, Karriere und anderen Lebensbereichen zu helfen.
Auf TikTok scheinen Tarotkarten sehr beliebt zu sein. Unter dem Hashtag #Tarot gibt es mehr als 8,2 Millionen Beiträge. Und in den Kommentaren wimmelt es nur so von Aussagen wie diesen:
Scheffler selbst definiert Spiritualität so: „Spiritualität ist eigentlich auch nur eine Glaubensrichtung.“ Katharina Nocun hingegen sagt, dass Esoterik eher als „eine Art Geheimwissenschaft oder Geheimlehre“ vermarktet wird.
Eine kritische Betrachtung der spirituellen Welt
Scheffler fühlt sich in der spirituellen Welt zu Hause. Die Autorin Nocun hingegen sieht das Ganze eher kritisch. Sie warnt vor den Gefahren, die entstehen können, wenn Menschen ihre Entscheidungen von Kartenlegungen und spirituellen Praktiken abhängig machen. Sie betont, dass solche Praktiken oft auf Pseudowissenschaft und dem sogenannten Barnum-Effekt basieren und diese Täuschungen besonders in Krisenzeiten gefährlich wären, da man in solchen Situationen leicht empfänglich für schnelle Lösungen und die Versprechungen von Selbstoptimierung wäre. Gerade Jugendliche sind besonders gefährdet, sagt sie. „In der Jugend sucht man Orientierung. Man erlebt oft, dass man die Kontrolle verliert. Und dann kommt jemand und sagt: „Ich habe eine einfache Lösung.“ Das ist verlockend.“ Zudem betont sie, dass die Dynamiken von Social Media eine bedeutende Rolle spielen und nicht vernachlässigt werden sollten.
Der Barnum-Effekt beschreibt die Tendenz von Menschen, vage und allgemeine Aussagen als zutreffend für sich selbst zu empfinden. Solche Aussagen lassen Raum für Interpretation und spielen geschickt mit den allgemeinen Wünschen, Hoffnungen und Ängsten, denen viele Menschen ausgesetzt sind. Der Effekt wird oft in Horoskopen und Persönlichkeitstests genutzt, um Menschen das Gefühl zu geben, verstanden zu werden. (Quelle: studyflix)
Selbstoptimierung und Pseudowissenschaft
Genau diese von Nocun erwähnten Dynamiken nutzt die Influencerin Scheffler mit ihrem Content. Durch Videos mit Titeln wie „Sich selbst finden“, „Bist du auf dem richtigen Weg?“ oder „Achtung, so erkennst du eine Gefahr“ spricht sie gezielt Themen an, die die Neugier und das Interesse ihrer Zuschauer*innen wecken. Indem sie Hashtags wie #fürdich oder #Spiritualität verwendet, sorgt sie dafür, dass ihre Videos bei der Zielgruppe ankommen. Scheffler betont, dass ihre Zuschauer*innen großes Interesse an ihren Aussagen zeigen und viele junge Menschen sich zu ihren Angeboten hingezogen fühlen. Dabei legt sie Wert darauf, dass ihre Kund*innen das geeignete Alter haben, um ihre Dienstleistungen nutzen zu können. Kartenlegungen bietet sie nicht für Personen unter 16 Jahren an. Für alle ab 16 Jahren prüft sie nach eigenen Angaben deren emotionale Reife.
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Fragwürdige Dynamiken
Nocun zeigt sie sich besorgt und sagt: „Gerade unsere Recherchen haben mich noch mal darin bestätigt, dass die Übergänge zwischen harmlos und gefährlich durchaus fluide sind.“ Sie warnt davor, dass im Bereich der Gesundheitsversorgung Esoterik und Verschwörungserzählungen miteinander verbunden sind, um wie sie sagt, „Quatschprodukte“ zu verkaufen. Zudem kritisiert sie die Vermarktung von Esoterik als Selbstoptimierungsweg und warnt vor unrealistischen und gefährlichen Angeboten wie der Behandlung von Depressionen mit Räucherstäbchen. Die Autorin äußert außerdem Bedenken hinsichtlich Personen, die lebensnotwendige medizinische Behandlungen aufgrund esoterischer Überzeugungen ablehnen und betont die Risiken, die mit solchen Entscheidungen einhergehen.
Als Esoterik-Influencerin hat auch Scheffler Erfahrungen mit Anfragen von kranken Menschen gemacht. Dennoch betont sie, dass sie Personen mit solchen Anfragen immer direkt zu einem Arzt schickt. Sie hebt die Bedeutung einer ausgewogenen Herangehensweise hervor, um die positiven Aspekte der Spiritualität zu genießen, ohne dabei in eine gefährliche oder ungesunde Richtung abzudriften: „Ich versuche nicht in die Extreme zu gehen, weil da kann man sich wirklich verrückt machen.“
„Ich versuche nicht in die Extreme zu gehen, weil da kann man sich wirklich verrückt machen.“
Das zweischneidige Schwert der Spiritualität
Scheffler betrachtet ihre Tätigkeit als Kartenlegerin als eine Möglichkeit, Menschen bei ihren Entscheidungen zu unterstützen und Orientierung zu bieten, indem sie ihnen hilft, ihre Intuition zu stärken. Die Autorin Nocun warnt jedoch vor den Risiken eines zu starken Vertrauens in esoterische Methoden und pseudowissenschaftliche Praktiken. Obwohl Scheffler die positiven Aspekte ihrer Arbeit betont, warnt Nocun vor den Gefahren der Esoterik. Sie betont, dass ein kritischer Umgang mit solchen Praktiken wichtig sei und spricht sich dafür aus, skeptisch zu bleiben und Eigenverantwortung zu zeigen, um Risiken zu minimieren. Letztlich liegt es an jedem selbst, den richtigen Weg zu finden – sei es durch spirituelle Praktiken oder den klaren Blick der Vernunft.
Am Ende des Videos zieht die junge Frau zwei Karten und lächelt geheimnisvoll in die Kamera. Sie deutet an, dass ein neuer Zyklus und eine Reise ins Unbekannte beginnt. Mit diesen Worten endet das Video und die Zuschauer*innen bleiben gespannt, was die Zukunft bringen mag. Ich lege mein Handy zur Seite, aber die ruhige und geheimnisvolle Stimmung des Tarot-Videos blieb noch eine Weile in meinem Kopf.