„Wenn ich mich nicht bewege, dann ist es vielleicht auch nicht so schlimm.“
„Ich dachte, ich könnte ihm vertrauen“
Dieser Artikel kann Themen enthalten, die als diskriminierend und verletzend empfunden werden könnten. Der Text beschäftigt sich mit folgenden sensiblen Inhalten: Vergewaltigung, sexueller Missbrauch
Bitte sei dir dessen bewusst und lies den Artikel entsprechend deiner persönlichen Sensibilität. Unsere Absicht ist es, respektvoll und einfühlsam zu berichten, um die Würde der betroffenen Personen zu wahren.
Mara schlendert entspannt mit ihrer Schwester durch den Supermarkt. Ihre Gedanken sind überall, nur nicht bei der Nacht vor sechs Jahren. Es ist Weihnachtszeit und sie ist über die Feiertage zu Besuch in ihrer Heimat. In der Stadt, in der sie sich eigentlich gar nicht mehr wohl fühlt. Nicht nach all dem, was damals passiert ist. Hier hat sie ständig Angst, ihm zu begegnen. Dem Mann, der ihr jahrelang Angst eingejagt und so viel Schmerz zugefügt hat. Und dann passiert es: Mitten im Supermarkt, zwischen den Regalen, steht er wenige Meter von ihr entfernt. Nur von hinten, aber dennoch hat sie ihn gesehen. Sechs Jahre Therapie, Verdrängung, Verarbeitung sind seit jener Nacht vergangen. Es fühlt sich wie gestern an, als sie ihren Vergewaltiger erkennt. In diesem Moment kommt alles wieder hoch. Mara rennt tränenüberströmt und in Panik aus dem Supermarkt.
Heute ist Mara 28 Jahre alt, lebt in einer anderen Stadt und führt eine gesunde Beziehung. „Man muss auch mal Glück haben“, sagt sie und lacht. Sie wirkt zufrieden, doch ihre Beziehung zu Männern war nicht immer so unbeschwert. Über die letzten Jahre hinweg macht Mara viele negative Erfahrungen.
Der Abend, der alles veränderte
Als sie den damals 22-Jährigen kennenlernt, ist Mara gerade mal 16 Jahre alt. „Damals fand ich das irgendwie toll. Er studierte schon und hatte coole Freunde“, erzählt sie kopfschüttelnd. Sie war hoffnungslos in den Älteren verknallt und dachte, er empfinde genau so.
Die Freundesgruppe feierte regelmäßig Partys in einem Stall. Zu einer Feier wird auch Mara eingeladen. „Ich glaube, dass dieser gesamte Ort nur existierte, um junge Frauen abzufüllen, mit nach Hause zu nehmen, um dann mit ihnen zu schlafen“, sagt sie. Sie trinkt Alkohol – vertraut dem 22-Jährigen. Er nimmt sie mit nach Hause, Mara schubst ihn von sich weg, doch an vieles kann sie sich nicht mehr erinnern. Die damals 16-Jährige verfällt in einen dissoziativen Zustand, wie sie es nennt.
Laut der MSD Sharp & Dohme GmbH können Menschen mit einer dissoziativen Störung Aktivitäten, die sich über Minuten, Stunden oder manchmal viel längere Zeiträume ereignet haben, vollkommen vergessen. Darüber hinaus fühlen sie sich möglicherweise von sich selbst losgelöst. Sie dissoziieren sich von ihren Erinnerungen, Eindrücken, ihrer Identität, ihren Gedanken, Gefühlen, ihrem Körper und ihrem Verhalten.
Mara sieht sich aus einer dritten Perspektive in dem Raum liegen. In diesem Moment, als der Mann sich an ihr vergreift, entschließt sie sich, es auszuhalten. Es war ihr erstes Mal. „Wenn ich mich nicht bewege, dann ist es vielleicht auch nicht so schlimm“, erinnert sie sich. Gewollt, habe sie das nicht. „Ich sehe immer noch dieses Bild von mir, wie ich in diesem Ort liege.“
Die Scham der Anzeige
Rund zwölf Tausend Vergewaltigungen, sexuelle Nötigungen und Übergriffe im besonders schweren Fall wurden polizeilich erfasst – das ergab die Polizeiliche Kriminalstatistik im Jahr 2023. Neben den erfassten Zahlen gibt es allerdings eine hohe Dunkelziffer. Das liegt an dem Anzeigeverhalten der betroffenen Frauen. Eine EU-weite Studie aus dem Jahr 2014 ergab, dass lediglich 13 Prozent der Frauen, die Opfer sexueller oder physischer Gewalt wurden, diese Taten der Polizei meldeten. Viele Frauen seien bereits von den langen Gerichtsprozessen und der Möglichkeit, dass das Verfahren eingestellt wird, eingeschüchtert, erklärt Tabea Konrad, Gesprächstherapeutin der Frauenberatungsstelle „Fetz“ in Stuttgart. Zu ihr kommen regelmäßig Frauen, die sexuell missbraucht wurden und Unterstützung suchen. Nicht jede Frau möchte ihren Vergewaltiger überhaupt anzeigen, erklärt sie. „Wir raten weder zu noch ab, sondern schauen, womit die Frau kommt und was für die Frau passt.“
Nach der Vergewaltigung ging Mara zur Polizei, doch angezeigt hat sie ihren Vergewaltiger nie. Da sich ihr Fall im Jahr 2012 ereignete, galt das alte Gesetz der Verfolgung sexuelle Straftaten. „Damals war eine Vergewaltigung nur dann eine Vergewaltigung, wenn der Täter wirklich Gewalt angewandt oder gegen Leib und Leben gedroht hat“, erklärt Psychologin Konrad die damalige Gesetzeslage.
Seit dem Jahr 2016 gilt der neue Grundsatz „Nein heißt Nein“. Damit sollen alle sexuellen Handlungen bestraft werden, die gegen den erkennbaren Willen einer Person vorgenommen werden. Also nicht länger nur die Fälle, in denen dem Opfer gedroht oder Gewalt angetan wird.
„Ich habe mich am Ende nicht getraut“, sagt die heute 28-Jährige. Auch nicht Jahre nach der Tat: „Ich hatte immer noch zu viel Angst, dass Leute negativ darüber reden.“ Konrad hört diese Sorge oft. „Scham ist eines der klassischen Gefühle, die mit sexualisierter Gewalt verbunden sind“, erklärt sie.
„Scham ist eines der klassischen Gefühle, die mit sexualisierter Gewalt verbunden sind.“
Mara verdrängt jene Nacht. Mit 18 Jahren bekommt sie Albträume, als würde ihr Körper und Geist erst zwei Jahre später die Tat verarbeiten. „Ich habe mich insgesamt unwohl gefühlt. Ich habe mich dann auch selbst verletzt und habe aufgehört zu essen“, erzählt sie. Die psychischen Folgen sexueller Gewalt sind groß. Laut Frauenzimmer e.V. haben Gewaltopfer ein hohes Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen. Körperliche Verletzungen heilen, doch der seelische Schmerz hält lange an.
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Mara geht zunächst zu einer klassischen Gesprächstherapie. Dort muss sie den Abend bis ins kleinste Detail wiedergeben – erlebt die Nacht immer wieder aufs Neue. „Das hat mich dann einfach nur nochmal retraumatisiert“, sagt sie. Konrad versteht das. „Heute geht man davon aus, dass, wenn eine Frau da immer wieder durchgeht, sie in die Situation immer wieder emotional reinrutscht und es fühlt sich jedes Mal ganz schrecklich an. Danach ist es kein bisschen besser“, erklärt die Gesprächstherapeutin.
Mara fällt in eine Trance, lebt eine Zeit lang abgespalten von ihren Gefühlen. „Das ist schon interessant, was der Körper oder der Kopf so macht. Wie er Dinge verdrängt“, überlegt die 28-Jährige. Im Studium kommen die Ängste immer wieder hoch. Sie entscheidet sich erneut für eine Therapie – eine Traumatherapie. „Das hat dann auch wirklich mal was geholfen“, erzählt sie.
Zwischen Hass und Heilung
Lange Zeit fragt sich Mara, was gewesen wäre, hätte sie sich direkt Hilfe gesucht. „Ich wollte gar nicht darüber reden, wollte nicht diese Opferrolle“, erklärt sie ihren inneren Zwiespalt. „Ich wollte einfach ganz normal weiterleben, wie ich immer gelebt habe – das hat mich so wütend gemacht“, gesteht sie. Immer wieder sucht Mara das Extreme in ihren kommenden Beziehungen, um sich selbst zu beweisen „Nein“ sagen zu können.
Dadurch habe sie eine Art Männerhass entwickelt. „Ich verstehe es einfach nicht – es ist mir unbegreiflich, wie man so sein kann und wie man dann auch weiter durchs Leben ziehen kann“, erzählt sie. „Für mich ist jeder Typ erstmal eine potenzielle Gefahr“, sagt sie deutlich.
„Für mich ist jeder Typ erstmal eine potenzielle Gefahr.“
Männerhass oder eine generelle Abneigung gegenüber Männern beobachtet auch die Psychologin Konrad in ihren Gesprächen: „Sexualisierte Gewalt dient immer auch der Unterdrückung und Demütigung von den betroffenen Personen. Insofern ist es auch kein Wunder, dass Frauen danach irgendwie misstrauisch reagieren.“
Mit den psychischen Folgen der Vergewaltigung kämpft Mara bis heute. Sie lässt sich ungern berühren und schweift mit den Gedanken auch während des Geschlechtsverkehrs immer wieder ab. In der Stadt und rund um die Gegend, in der sie früher gelebt hat, fühlt sie sich noch immer unwohl. „Da sind echt zu viele Leute, die ich kenne und zu viele Leute, die ihn kennen“, erzählt die 28-Jährige. Trotzdem versucht Mara aktiv die negativen Gefühle mit positiven zu überschreiben. „Ich war letzten Sommer da und es war eigentlich ganz schön“, erzählt sie mit einem Lächeln auf den Lippen. Ihren Vergewaltiger hat sie seit dem einen Mal im Supermarkt nie wieder getroffen. Auch in Zukunft hat die 28-Jährige nicht vor, ihn mit den Vorwürfen zu konfrontieren.
Während Mara also heute, zwölf Jahre nach der Tat, durch einen Supermarkt in ihrer Heimat schlendert, ist der Schmerz der Vergangenheit nicht vollständig vergessen. Sie lebt in einer neuen Stadt, mit einem Partner, der sie unterstützt. Erst jetzt beginnt sie, das Glück und den Frieden zu finden, den sie verdient.
*Der Name wurde im Folgenden geändert, die echte Identität jedoch ist der Redaktion bekannt.