„Ich muss mich sehr gut um meinen Körper kümmern, denn er ist meine Hauptquelle für alles. Für meine Seele, mein Leben und das Tanzen.“
Xenia schließt für einen Moment die Augen, atmet tief ein und fließt zusammen mit den anderen Tänzer*innen durch die ersten Bewegungen des Tages – Yoga. Der Raum ist erfüllt von ruhiger Konzentration. Eine Stunde lang wärmen die Tanzschüler*innen ihren Körper mit fließenden und doch fordernden Übungen auf, dehnen müde Muskeln und bereiten sie auf das vor, was kommen wird: ein langer, intensiver Tanztag.
So beginnt der Morgen für die 23-jährige Xenia Hensch im Alltag an der Iwanson International School of Contemporary Dance in München, einer internationalen Akademie für zeitgenössischen Tanz. Sie ist dort im zweiten Jahr ihrer Ausbildung zur Profitänzerin. In der Vollzeitausbildung, die auf die Diplom-Bühnenreife vorbereitet, werden Tänzer*innen an der Iwanson nicht nur für eine saubere Technik geschult, sondern auch in ihrer individuellen künstlerischen Ausdruckskraft gefördert. Das ist im Contemporary essenziell.
Was ist Contemporary Dance?
Contemporary Dance ist eine zeitgenössische Tanzart, die ihre Ursprünge im Ballett hat. Im Gegensatz zum klassischen Ballett ist Contemporary Dance freier, offener und erdiger. Tänzer*innen kombinieren verschiedene Bewegungsformen wie Bodenarbeit, Improvisation, Partnering und athletische Elemente. Dabei sind Einflüsse aus Ballett, Jazz und Modern Dance deutlich spürbar.
Den entscheidenden Anstoß zur Iwanson bekam Xenia von ihrer damaligen Ballettlehrerin Sylke Damerau. Diese sagte als Xenia 16 Jahre alt war: „Da gehörst du hin.“ Zunächst blieb es nur ein Traum. Sicherheitshalber machte Xenia eine kaufmännische Ausbildung. Doch der Tanz ließ sie nicht los. Eines Tages dachte sie: Jetzt oder nie. Sie folgte ihrem Herzen, als sie sich zu den Auditions in München an der Contemporary School anmeldete: „Es war einfach ein kurzer Gedanke im Alltag: Mach es jetzt.“
Perfektion in Bewegung – oder doch eine „lost fly“
Um 10 Uhr ist Yoga vorbei. Eine kurze Verschnaufpause, dann geht es weiter – Ballett steht auf dem Stundenplan. „Wir haben jeden Tag Ballett“, erklärt Xenia. Unterrichtet wird es von Bojana Nenadovic. Sie war selbst Tänzerin und bringt eine Mischung aus Strenge und Empathie mit in den Raum. Ihr Unterricht ist fordernd, doch anstatt Fehler bloßzustellen, gibt sie präzise Verbesserungsvorschläge und geht auf die Tanzschüler*innen ein. Ihre Augen verfolgen jede Bewegung, korrigieren kleinste Details, ohne dabei deren individuellen Ausdruck aus den Augen zu verlieren.
Xenia ist sehr ehrgeizig. Als im Ballett etwas nicht direkt funktioniert, schüttelt sie über sich selbst den Kopf und versucht es gleich noch einmal besser. Bojana ist direkt, wenn ihr etwas auffällt. „You look like a lost fly“, ruft sie trocken, als eine Bewegung bei der Klasse nicht sitzt. Kurzes Gelächter, dann fangen sich alle wieder. Denn hier geht es nicht nur ums Tanzen – es geht um Disziplin, um die Vorbereitung auf die Bühne, auf eine Zukunft als professionelle*r Tänzer*in.
„Im Moment sehen unsere Unterrichtsstunden etwas anders aus“, sagt Xenia und streicht sich eine lose Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Prüfungen rücken näher, in knapp zwei Wochen ist es so weit – intensive Vorbereitung bestimmt den Alltag in Xenias Tanzunterricht. Gleichzeitig laufen die Proben für die Bühnenshow im Sommer. Eine spürbare Anspannung liegt in der Luft. Der Druck wächst: Jede*r will das Beste aus sich herausholen, noch präziser und ausdrucksstärker werden.
Nicht nur die körperlichen Anforderungen verlangen den Studierenden alles ab. Neben 30 Stunden Training pro Woche müssen viele auch arbeiten, um sich die Ausbildung und das Leben in München zu finanzieren. So ist es auch bei Xenia: Nach dem Tanzunterricht unterrichtet sie selbst Ballett. Sie muss für ihre Ausbildung einiges opfern – Zeit, Geld, Stress und körperliche Belastung. Sie lebt in einer kleinen Ein-Zimmer-Wohnung und musste weg von zuhause nach München ziehen. Aber all das sei es ihr wert, um tanzen zu können. Wenn man für etwas nicht brenne, wieso sollte man es dann machen? „Das Tanzen ist meine Leidenschaft“, beschreibt sie. Der Tanz bestimmt ihr Leben, aber er fordert auch seinen Tribut – das ist ihr Alltag.
Doch eigentlich gleicht nie ein Tag dem anderen – der Alltag an der Iwanson ist immer besonders. „Everyday is never the same“, ergänzt Bojana treffend. Denn Tanz bedeute nicht nur Disziplin und harte Arbeit, sondern auch Freiheit.
Wenn der Körper spricht – kreativer Freiraum im Tanz
Ein Ausdruck dieser Freiheit ist die Tanzimprovisation, das spontane Kreieren von Bewegungen. Xenia beschreibt, wie sie in der Ausbildung lernt, sowohl frei als auch mit bestimmten Vorgaben zu improvisieren: „Manchmal bekommen wir Anweisungen wie: Tanzt zuerst nur mit euren Beinen, danach kommen erst der Oberkörper und Arme dazu.“ Das ermögliche den Tänzer*innen sich auf neue Ideen und Bewegungen einzulassen.
Es ist ein wichtiger Bestandteil des Unterrichts. Laut einer Forschungsarbeit der Pace University fördert die Tanzimprovisation Kreativität, Lernprozesse und bringt Körper und Geist in Einklang.
Disziplin und kreative Freiheit gehen dabei Hand in Hand – auf der Bühne, im Proberaum und in jeder einzelnen Bewegung.
Der tägliche Tanz mit dem Druck
Nach einer wohlverdienten Mittagspause beginnt der Contemporary-Unterricht um 13 Uhr bei Minka-Marie Heiß. Die Stunde startet mit Übungen in Partnering, dem Tanz zu zweit, und Bodenarbeit. Eine Vorbereitung auf das anstehende Examen.
Nach den technischen Übungen beginnt das Rehearsal, die Probe für die große Bühnenshow im Sommer. Die Atmosphäre ist aufgeladen, die Spannung greifbar. Noch sind die Rollen im Tanz nicht fest verteilt, so Minka. Sie weiß auch, dass sie nicht jeden mit der Rollenverteilung glücklich machen wird. Ein Blick über die Gesichter der Tänzer*innen zeigt die Mischung aus Anspannung und Hoffnung. Jede*r von ihnen will glänzen, sich beweisen, eine besondere Rolle ergattern.
„Bei uns ist es aber glücklicherweise so, dass wir von Anfang an zusammengehalten haben“, betont Xenia. Das Konkurrenzdenken ist zwar da, dominiert den Alltag jedoch nicht – im Gegenteil, der Zusammenhalt ist stark unter den Tänzer*innen. In kleinen Gesten zeigt sich das: „Du kannst meine Schuhe ausleihen!“, „Hier, nimm diese Schmerztablette“, „Kann ich dein Deo benutzen?“ oder „Lass uns zusammen Kaffee holen!“
Auch von den Dozent*innen bekämen sie Unterstützung, anders wie man es von anderen Schulen kenne. „Wir haben Glück mit unseren Lehrer*innen“, sagt Xenia und lächelt. Sie sehen die Schüler*innen nicht nur als Tanzprodukte, sondern auch als Menschen. Besonders beim Thema Essen sei das wichtig. Nicht alle haben von Anfang an einen gesunden Umgang damit. Deshalb gibt es im ersten Jahr der Ausbildung eine Ernährungsberatung – ein Zeichen, dass auch über den Tanz hinaus Verantwortung für Studierende übernommen werde. „Ich muss mich sehr gut um meinen Körper kümmern, denn er ist meine Hauptquelle für alles. Für meine Seele, mein Leben und das Tanzen “, erklärt sie. Mehr denn je schaue Xenia darauf, dass sie gesund bleibt – auch psychisch, sodass sie ihre Ziele erreichen kann, von denen sie träumt.
Jetzt oder nie: Der Weg zum Ziel
Xenia tanzt, seit sie fünf ist. In München geboren, probierte sie früh verschiedene Stile aus – von Kindertanz über Stepptanz bis hin zu Ballett. Mit sieben zog sie nach Krumbach und trainierte seither im Tanzforum Damerau. Dort hat sie viel erlebt und auch schon Erfolge gefeiert: Als Solistin in Bühnenshows oder auch auf Wettkämpfen: 2023 gewann sie mit ihrer Gruppe den ersten Platz bei der Weltmeisterschaft im Modern Dance. „Das war Wahnsinn und eine unglaubliche Erfahrung“, sagt sie stolz. Es war der Lohn für jahrelange harte Arbeit – und sei auch ein Verdienst ihrer Trainerin Sara Tenta gewesen. Schon bevor Xenia ihre Tanzausbildung begann, trainierte sie bereits bis zu 15 Stunden pro Woche – ohne, dass sie wusste, wohin ihr Weg sie führen würde.

Heute ist ihr Ziel klar: „Ich möchte Bühnentänzerin werden.“ Trotz ihrer Ausbildung im Contemporary Dance möchte sie sich nicht auf eine einzige Stilrichtung festlegen. „Ich bin da breit aufgestellt – Hip-Hop, Jazz, Contemporary oder auch Ballett gefällt mir.“ Je vielseitiger sie sei, desto besser wären die Chancen auf Jobs. In einer Company kann sie sich vorstellen zu tanzen oder auch in einem Musical. Und später in ihrer Laufbahn, nach der aktiven Zeit als Tänzerin, kann sie sich auch vorstellen selbst zu unterrichten. Für den Moment zählt für Xenia erstmal nur eines: ihren Traum zur Profitänzerin zu verwirklichen – und zu leben.
Erschöpft – aber voller Herzblut und Hingabe
Um 15 Uhr ist der Unterrichtstag an der Contemporary School nun vorbei. Für Xenia geht es danach weiter zur Arbeit ins Tanzstudio.
Trotz der körperlichen Anstrengung und der psychischen Belastung bleibt bei Xenia eine Sache immer gleich: ihre Leidenschaft. „Ich liebe die Anstrengung, wenn ich 1,5 Stunden Unterricht hatte und danach komplett kaputt bin.“
Diese Herausforderung und Leidenschaft treibt sie an, immer wieder über ihre Grenzen hinauszugehen.
Das ist wohl eine Art der Liebe.
Die Autorin des Textes ist mit Xenia befreundet, weil sie jahrelang mit ihr getanzt hat – auch bei der Weltmeisterschaft. Allerdings schlägt sie nun den Weg zur Journalistin ein. Sie erzählt darüber: „Bei der Weltmeisterschaft 2023 in Prag teilten wir uns ein Zimmer. Wir haben gemeinsam gezittert, gelacht, geweint. Zusammen auf der Bühne gestanden, nachts am Waschbecken die Schminke entfernt und unsere Gedanken geteilt. Diese Tage fühlten sich surreal an. Manchmal kann ich es selbst kaum glauben, dass wir sagen können: Hey, wir haben eine Weltmeisterschaft gewonnen. Denn wem erzählt man so etwas, ohne dass es wie ein Traum klingt?“