Verlorene Bilder, vergessene Geschichten – Die Raubkunst der Nazis

KvdB; Mit freundlicher Unterstützung der Staatsgalerie Stuttgart, Foto: Sabeth Wollinger

Verlorene Bilder, vergessene Geschichten – Die Raubkunst der Nazis

KvdB; Mit freundlicher Unterstützung der Staatsgalerie Stuttgart, Foto: Sabeth Wollinger
23. Juni 2025

Herkunft, Besitz, Schuld. Welche Wege nahmen die Kunstwerke, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt wurden, und wie kamen sie zurück zu den Erb*innen und in die Museen? Einer, der viele dieser Wege mitbestimmte, war Hildebrand Gurlitt: Kunsthistoriker, Museumsdirektor und einer der wichtigsten Kunsthändler der NS-Zeit.

Im Halbdunkeln des Museumsdepots hallen Schritte. Zwei Männer durchqueren die Räume der Staatsgalerie Stuttgart. Sie kommen nicht, um Kunst zu bewundern – sie kommen, um sie zu beschlagnahmen. Scheinbar willkürlich zeigen sie auf die Bilder, die abtransportiert werden sollen. Ihr Blick fällt auf ein modernes Gemälde: Ein ernster Mann mit durchdringendem Blick, einen roten Schal um seinen Hals geschlungen.

Es ist das „Selbstbildnis mit rotem Schal“ von Max Beckmann. Auf die Rückseite wird die Beschlagnahme-Nummer geschrieben: 16026. 

Mit freundlicher Unterstützung der Staatsgalerie Stuttgart, Foto: Sabeth Wollinger

Es ist das „Selbstbildnis mit rotem Schal“ von Max Beckmann. Auf die Rückseite wird die Beschlagnahme-Nummer geschrieben: 16026. 

Mit freundlicher Unterstützung der Staatsgalerie Stuttgart, Foto: Sabeth Wollinger

Das Bild wird abtransportiert. Das Ziel: München. 

So beginnt die Reise von Max Beckmanns „Selbstbildnis mit rotem Schal“. Was folgt, ist eine Odyssee durch verschiedene Städte Deutschlands. Heute hängt das Selbstbildnis wieder in der Stuttgarter Staatsgalerie. 

Hier sieht man den Weg, den das „Selbstbildnis mit rotem Schal“ genommen hat. 1924 hat es die Staatsgalerie gekauft und ausgestellt, bis es beschlagnahmt wurde. 1948 kam es zurück in die Staatsgalerie.

Max Beckmann malt das „Selbstbildnis mit rotem Schal“ 1917 in Frankfurt. Es zeigt ihn vom Ersten Weltkrieg zerrüttet. Auf seiner linken Hand ist die Andeutung eines Wundmals zu erkennen und sein Kopf befindet sich exakt am Kreuzungspunkt des Fensterrahmens. Das Gemälde kommt zuerst an einen Bekannten von Beckmann. An den Sammler Walter Carl und dann an dessen Vater Julius A. Carl. 1924 kauft die Staatsgalerie Stuttgart das Bild für 3.000 Reichsmark und stellt es in der Ausstellung „Neue Deutsche Kunst“ aus.

Doch unter der nationalsozialistischen Kulturpolitik  wird das Bild 1937 von den Nationalsozialisten als „entartete Kunst“ eingestuft und beschlagnahmt. Zusammen mit Hunderten anderen Werken reist es in der Wanderausstellung „Entartete Kunst“ durch ganz Deutschland und wird in München, Berlin, Leipzig, Düsseldorf und Salzburg ausgestellt. Es ist nicht das einzige Gemälde Beckmanns in der Ausstellung. Insgesamt zeigt man 21 Kunstwerke des Künstlers. Parallel dazu werden mehr als 650 „entartete“ Werke des Künstlers in deutschen Museen beschlagnahmt. 

Nach der Ausstellung in Salzburg wird Beckmanns Porträt ins Berliner Schloss Schönhausen gebracht – ein Zwischenlager für „international verwertbare“ Kunst. Vermutlich um die Kriegskasse aufzubessern, wird es 1939 bei der Auktion Fischer in Luzern angeboten, findet dort jedoch keinen Käufer. Zurück im Depot im Schloss Schönhausen entdeckt der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt das Werk.

Gurlitt – Hitlers Kunsthändler?

Gurlitt war einer der Kunsthändler, die ausgewählt wurden, um „entartete Kunst" ins Ausland zu verkaufen. Er schließt einen Tauschvertrag mit dem sogenannten Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda und tauscht das Selbstbildnis von Beckmann sowie 27 andere Werke gegen das Gemälde „Landschaft“ von Johann Faber ein. Der Wert des Bildes wird nun für 168 Reichsmark angegeben.

Wie und wann genau Gurlitt das Bild weiterreicht, ist unklar. 1948 taucht es in der Münchner Galerie Günther Franke auf und gelangt noch im selben Jahr zurück in die Staatsgalerie. Dieses Mal für 3.500 Deutsche Mark. 

Hildebrand Gurlitt war nicht nur Kunsthändler – er war Strippenzieher im Hintergrund. 

Philipp Berkovich

Hildebrand Gurlitt war nicht nur Kunsthändler – er war Strippenzieher im Hintergrund. 

Philipp Berkovich

Gurlitt verkaufte nicht nur „entartete Kunst“ aus deutschen Museen, er beschaffte auch Kunstwerke im besetzten Paris für Hitlers geplantes „Führermuseum“ in Linz. All das oft unrechtmäßig und aus jüdischem Besitz.

In den 1930er-Jahren stieg er vom entlassenen Museumsdirektor zum zentralen Akteur eines Kunsthandelsnetzwerks auf, das weit über Deutschland hinaus reichte. Er wusste, wie man Werke beschaffte, wie man sie weiterverkaufte – und wie man Lücken in der Herkunft verschleiern konnte. Kein Wunder, dass viele Quellen ihn heute als „Hitlers Kunsthändler“ betiteln.

Gurlitts Fall zeigt, wie systematisch NS-Raubkunst beschafft, gehandelt und global verteilt wurde. Sein Netzwerk macht sichtbar, wie viele Personen und Institutionen daran beteiligt waren: Sammler*innen, die enteignet wurden oder ihre Werke unter Zwang verkaufen mussten, Museen mit „günstigen“ Angeboten, Auktionen im Ausland, Zwischenhändler*innen, die teils heute noch unbekannt sind. Die Forschung zeigt, dass Gurlitt besonders in den Vorkriegsjahren auch mit jüdischen Händler*innen zusammenarbeitete. Besonders häufig handelte Hildebrand Gurlitt mit den Pariser Kunsthändlern Raphaël Gérard und Theo Hermsen. Hermsen war ein bedeutender Akteur im französischen Kunsthandel und einer der wichtigsten Geschäftspartner Gurlitts. Laut Gurlitts Geschäftsbüchern wechselten zwischen ihnen über 200 Objekte den Besitzer. 
Die Herkunfts- und Handelsgeschichten all dieser Werke bilden ein für den NS-Kunsthandel beispielhaftes Netzwerk und verdeutlichen, durch wie viele Hände jedes einzelne Kunstwerk gegangen ist. 

Gurlitt war eng vernetzt und hatte Handelsbeziehungen bis nach Paris und Linz. Außerdem handelte er mit jüdischen Händler*innen.

Dass man heute so viel über Gurlitts Beziehungen, seinen Kunsthandel und sein Leben weiß, liegt an dem spektakulären „Schwabinger Kunstfund“ bei seinem Sohn Cornelius Gurlitt, der einen Großteil der Kunstwerke seines Vaters geerbt hat. 2012 wurden in seiner Münchener Wohnung über 1.400 Werke entdeckt, was die öffentliche Debatte über NS-Kunstraub und Restitution neu entfachte. Allein aus Frankreich ließ Gurlitt 400 Objekte auf offiziellem Weg nach Deutschland bringen. Die Dunkelziffer wird deutlich höher geschätzt.

350 dieser Werke hortete Gurlitt für sich – darunter Kunstwerke von bekannten Künstlern wie Henri Matisse, Otto Dix oder Anton Graff. Sie kamen erst mit dem Kunstfund wieder ans Licht. 

Kunstverwaltung des Bundes (KvdB)

350 dieser Werke hortete Gurlitt für sich – darunter Kunstwerke von bekannten Künstlern wie Henri Matisse, Otto Dix oder Anton Graff. Sie kamen erst mit dem Kunstfund wieder ans Licht. 

Kunstverwaltung des Bundes (KvdB)

Teil des Kunstfunds Gurlitts war auch das Bildnis von Johanna Dorothea Richter. Der schweizer Porträtmaler Anton Graff schuf das Gemälde im Jahr 1813.

Kunstverwaltung des Bundes (KvdB)

Teil des Kunstfunds Gurlitts war auch das Bildnis von Johanna Dorothea Richter. Der schweizer Porträtmaler Anton Graff schuf das Gemälde im Jahr 1813.

Kunstverwaltung des Bundes (KvdB)

Über ein Jahrhundert nach seiner Entstehung gelangte es in den Besitz des Pariser Kunsthändlers Theo Hermsen und kam später zu Hildebrand Gurlitt. Während des Zweiten Weltkrieges war die Zusammenarbeit der beiden Kunsthändler besonders intensiv.

Hier steht das Kunstwerk in der Mitte des Netzwerks. Es wurde als “nicht gesichert Raubkunst” eingestuft. Das bedeutet: Es gibt Hinweise auf NS-Raubkunst, aber keine Belege.

Nachdem es in Gurlitts Nachlass wieder aufgetaucht ist, wurde es an die Bundesrepublik Deutschland übergeben. Der genaue Weg des Gemäldes zwischen 1933 und 1945 bleibt jedoch bis heute unklar – es bestehen Lücken in der Provenienz. Es fehlen also eindeutige Belege, dass es sich um NS-Raubkunst handelt, allerdings gibt es Hinweise darauf. Aus diesem Grund wurde das Bildnis von Provenienzforscher*innen am Kunstmuseum Bern als „Verdacht auf Raubkunst“ (gelb/rot) in dem Provenienz-Ampel-System eingestuft.

Die Berner Ampel
Die Berner Ampel: Kategorien zur Bewertung von Erkenntnissen der Provenienzforschung, Kunstmuseum Bern 2021.
Quelle: Kunstmuseum Bern

Die Aufgabe von Provenienzforscher*innen ist es, zu erforschen, welchen Weg das Objekt zurückgelegt hat, wie und wann es den Besitz gewechselt hat. Um Enteignungen während der NS-Zeit offenzulegen und aufzuarbeiten, wurden 1998 die „Washingtoner Prinzipien“ unterzeichnet. 44 Staaten, darunter auch Deutschland, erklärten sich bereit Kunstwerke mit ungeklärter Herkunft zu finden und ihren rechtmäßigen Besitzer*innen zurückzugeben. Deutschland entschied sich für den Weg eines sogenannten Soft Laws – also keine gesetzliche Regelung, sondern eine moralisch-ethische Selbstverpflichtung. Neben den Washingtoner Prinzipien gibt auch die „Handreichung Provenienzforschung“ deutschen Museen eine Orientierung, um herauszufinden, ob es sich um Raubkunst handelt oder nicht.

Mit dem Ziel eine gesetzliche Regelung bei Restitutionsstreitigkeiten zu schaffen, plant die Bundesregierung ein unabhängiges Schiedsgericht. Dieses soll die aktuelle „Beratende Kommission” ersetzen und rechtlich bindende Entscheidungen treffen können. Das neue System, die Schiedsgerichtbarkeit von NS-Raubgut, sieht einen Pool an Richtern und Richterinnen vor, aus denen die Museen und die Anspruchstellenden auswählen können. Um dieses System umzusetzen, müssen alle Bundesländer zustimmen und so ist erst Anfang 2026 mit einem Ergebnis zu rechnen.

Der Faktor Zeit

„Wir wissen alle, dass wir bis zur Rente nicht fertig werden“, erklärt Johanna Poltermann und zeigt damit eine weitere große Herausforderungen der Forschung auf: die Zeit. Poltermann war Teil der Taskforce „Schwabinger Kunstfund“ und damit an der Forschung um den „Kunstfund Gurlitt” beteiligt. Heute arbeitet sie als Provenienzforscherin der Staatsgalerie Stuttgart. Um die Provenienz nachbilden zu können, recherchiert sie in Archiven, Tagebüchern und anderen Unterlagen. Kriegsverluste, unzugängliche Archive, Datenschutz und persönlichkeitsrechtliche Bestimmungen würden Zugang zu Quellen erschweren, so Poltermann.

„Wir wissen alle, dass wir bis zur Rente nicht fertig werden.“

Johanna Poltermann

Im Laufe der Jahre wurden Datenbanken weiterentwickelt, sodass Quellen inzwischen besser zugänglich sind. Auch das gesellschaftliche und politische Bewusstsein stellte vor allem zu Beginn der Provenienzforschung eine Herausforderung dar. So wurde die Provenienzforschung anfänglich noch als Restitutionsforschung bezeichnet, was Poltermann jedoch kritisch sieht: „Restitution kann am Ende eine faire Lösung sein – doch bis dahin müssen hunderte Provenienzen erforscht werden. Genau deshalb beschreibt der Begriff nicht den eigentlichen Auftrag unserer Arbeit.“

Viele Fälle bleiben auch nach jahrelanger Recherche ungelöst. „Man dreht jeden Stein um, den es gibt – und am Ende steht eine lückenhafte Besitzkette“, so Poltermann. Oft bleibe nur eine Einstufung auf Gelb im Provenienz-Ampel-System: Die Provenienz ist nicht geklärt. So auch bei dem Bildnis Johanna Dorothea Richters von Anton Graff. Nur wenn unerwartet neue Quellen auftauchten, etwa ein alter Auktionskatalog, ein Ausstellungskatalog oder ein bislang unbekanntes Dokument, ließe sich der Fall vielleicht eines Tages abschließend klären, erklärt Poltermann.

Um bei Kunstinteressierten auch ein Interesse für die Geschichten hinter der Kunst zu wecken, versuchen Museen wie die Staatsgalerie Stuttgart, die Provenienzen ihrer ausgestellten Bilder erlebbar zu machen.

Mit freundlicher Unterstützung der Staatsgalerie Stuttgart, Foto: Sabeth Wollinger

Um bei Kunstinteressierten auch ein Interesse für die Geschichten hinter der Kunst zu wecken, versuchen Museen wie die Staatsgalerie Stuttgart, die Provenienzen ihrer ausgestellten Bilder erlebbar zu machen.

Mit freundlicher Unterstützung der Staatsgalerie Stuttgart, Foto: Sabeth Wollinger

Jedes Jahr am 9. April, dem „Tag der Provenienzforschung“, gibt es spezielle Führungen, die Einblicke in die Forschung zur Herkunft der ausgestellten Kunstwerke geben und erklären, warum Provenienzforschung relevant ist.

Außerdem bietet die Staatsgalerie besonders für ihre jüngeren Besucher*innen ein digitales Krimi-Spiel auf ihrer Webseite an. Hier kann man selbst zur Provenienz des „Selbstbildnis Max Beckmann“ forschen und in einem virtuellen Büro und Archiv nach Notizen und Beweismitteln suchen. So kann man selbst erleben, welche Herausforderungen Restitutionsforderungen mit sich bringen.

Eine große Herausforderung: In Deutschland gab es bisher keine rechtlich bindende Regelung bei Streitigkeiten in Restitutionsfällen. Das soll sich jetzt ändern. Die Bundesregierung plant ein unabhängiges Schiedsgericht, welches die Beratende Kommission ersetzen soll und verbindliche Entscheidungen treffen kann. „Das neue System, die Schiedsgerichtbarkeit von NS-Raubgut, sieht einen Pool an Richtern und Richterinnen vor, aus denen die Museen und die Anspruchstellenden auswählen können“, erklärt Poltermann. Um dieses System umzusetzen, müssten alle Bundesländer zustimmen und so sei erst Anfang 2026 mit einem Ergebnis zu rechnen.

Für diesen Beitrag haben wir eine soziale Netzwerkanalyse durchgeführt. Untersucht wurden die Verbindungen von Hildebrand Gurlitt zu Kunsthändler*innen, Sammler*innen und Institutionen im Kontext des NS-Kunsthandels.

Die Analyse beruht auf qualitativen und quantitativen Daten – darunter Kontakte und Transaktionswege der Bilder. Die Informationen stammen aus öffentlich zugänglichen Quellen, darunter der LostArt-Datenbank und der Datenbank des Kunstmuseums Bern.

Hier sind alle unsere Daten zu finden, die wir für unser Netzwerk verwendet haben.