„Ich war zum Teil wie fremdgesteuert, es musste immer mehr sein.“
Wenn der Ehrgeiz in die Krankheit treibt
Der Tag beginnt mit dem Abwiegen des Frühstücks, danach muss noch etwas für die Uni erledigt werden. Pünktlich um 12:30 Uhr beginnt Franzi ihr zweistündiges, intensives Krafttraining. Nach dem Training gibt es Porridge mit Proteinpulver und Früchten. Damit sie ihr Schrittziel erreicht, geht sie am Nachmittag mindestens 60 Minuten spazieren. Am Abend kocht sie sich etwas Frisches zu essen und kümmert sich um den Haushalt.
So sah Franzis Alltag während ihrer Sportsucht aus. Alles in Ihrem Kopf drehte sich um Sport und Ernährung. Um ihren „perfekten“ Körper zu erreichen, hat sie sich an einen strengen Ernährungsplan gehalten: Mindestens zwei Gramm Eiweiß pro Kilogramm Körpergewicht, nur gesunde Fette, kein Zucker und kein Fleisch. Die 23-Jährige hat sich nach ihrer Essstörung durch die Sportsucht eine neue Kontroll- und Sicherheitsstruktur aufgebaut.
Sportsucht ist eine Verhaltenssucht. Die Betroffenen üben den Sport immer weiter aus, obwohl bereits negative Konsequenzen eingetreten sind. Selbst bei Verletzungen fällt es ihnen schwer, auf den Sport zu verzichten. Sie nehmen extreme Schmerzen in Kauf, um weiter trainieren zu können.
Die genauen Ursachen für eine Sportsucht sind bislang noch nicht erforscht. Dr. Karsten Henkel ist Chefarzt für Gerontopsychiatrie am Klinikum Christophsbad Göppingen und beschäftigt sich intensiv mit dem Thema Sportsucht. Dort hat er eine sportpsychiatrische Sprechstunde mit aufgebaut. Er erklärt, dass es sich bei den meisten Sportsüchtigen nicht unbedingt um Leistungssportler*innen handelt, sondern meist um Menschen, die mit Sport psychische Konflikte kompensieren oder Störungen des Körperschemas (z.B. Essstörungen oder selbst empfundene Störungen des Äußeren) haben. Außerdem wird vermutet, dass körpereigene Glückshormone zur Suchtentwicklung beitragen. Das Belohnungssystem im Gehirn gewöhnt sich an den Sport sowie das dabei ausgeschüttete Dopamin und fordert immer mehr. Die Entwicklung verläuft ähnlich wie bei einer Substanzabhängigkeit.
Verschiedene Arten der Sportsucht
Primäre Sportsucht
- Den Sport durchzuführen, steht im Vordergrund
- Sport wird wegen des Sporttreibens ausgeübt und nicht, weil man dadurch abnehmen möchte
- Die Sportausübung ist von innen heraus motiviert
Sekundäre Sportsucht
- Das Essen steht im Vordergrund
- Sport wird betrieben, um möglichst genaue Ziele erreichen zu können
- Zwanghaftes Sporttreiben steht in Verbindung mit einer Essstörung
- Im Vordergrund stehen Faktoren wie der Kalorienverbrauch und die Gewichtsreduktion
- Sport ist Mittel zum Zweck
Kann das geplante Training der Betroffenen nicht eingehalten werden, kommt es häufig zu Entzugserscheinungen. Auch Franzi erklärt, dass sie immer versucht hat, ihr Training einzuhalten. Musste sie ihr Training spontan doch ausfallen lassen, war es für sie schrecklich. Sie habe sich dann immer sofort unwohl in ihrem Körper gefühlt und war extrem schlecht gelaunt. Wenn sie schon vorher wusste, dass sie an einem Tag nicht trainieren konnte, war sie schon Wochen vorher gestresst. „Ich war zum Teil wie fremdgesteuert, es musste immer mehr sein", erklärt sie. Solange die 23-Jährige nicht extrem krank war, wurde weiter trainiert.
Therapeutische Schwierigkeiten
Karsten Henkel erklärt, dass die Therapie solcher Patient*innen herausfordernd ist. Bei der Behandlung müsse man individuell auf die Bedingungen der Patient*innen eingehen und therapeutisch flexibel sein. Es kann helfen, eine Struktur zu finden, die von den üblichen Behandlungsmustern abweicht. Vor allem betont er, dass ein komplettes Sportverbot keine Lösung in der Behandlung von Sportsüchtigen ist. Die Betroffenen sollen nicht völlig inaktiv werden, denn Bewegung ist wichtig und gesund, solange sie reguliert und kontrolliert ist. Das schlechte Gewissen, keinen Sport zu treiben, müsse durch rationale Begründungen beseitigt werden.
Franzi war während der gesamten Zeit ihrer Fitnesssucht bei einer Therapeutin in Behandlung. Da die 23-Jährige vorher stark magersüchtig war, ging sie weiter zur Therapie. Aber ihre Therapeutin konnte ihr nicht helfen. Sie hatte keine Expertise und riet ihr nur vom extremen Sporttreiben ab. Schließlich hat Franzi es selbst geschafft, aus ihrer Sportsucht herauszukommen. Die Studentin kam zur Erkenntnis, dass ihre Lebensweise nicht gesund ist, sondern zwanghaft und eine Verlagerung der Essstörung in den Sportzwang. Franzi hat eine fast einjährige Trainingspause eingelegt und möchte nun langsam und kontrolliert wieder mit dem Sport anfangen.
Bei der Behandlung von Sportsüchtigen und Essgestörten wünscht sie sich mehr tiefenpsychologisches Hinterfragen. Meist wird nur das Verhalten der Betroffenen betrachtet und festgestellt, dass sie sich zu viel bewegen oder ein gestörtes Essverhalten haben. Dann wird versucht, dieses Verhalten zu ändern. Warum aber der Drang nach Bewegung und Kontrolle überhaupt da ist und wo die Ursachen liegen, wird meist nicht hinterfragt. Franzi vermutet, dass genau das der Grund ist, warum aus einer Essstörung oft eine Sportsucht wird. Die Betroffenen suchen sich nach der Essstörung eine neue Struktur, die ihnen Sicherheit gibt.
Ihre Sportsucht hielt sie vor ihrem gesamten Umfeld geheim. Franzi bekam Komplimente für ihren durchtrainierten Körper und wurde sogar nach Tipps gefragt. Auch von ihren Eltern wurde sie ermutigt, schließlich war sie nicht mehr untergewichtig. Sie hatte an Muskeln zugenommen und sah äußerlich wieder gesund aus. Dass es ihr innerlich gar nicht gut ging, merkte jedoch niemand.
Auswirkungen auf die Gesundheit
Die Sucht nach Sport bringt schwerwiegende Folgen mit sich. Das Ungleichgewicht von Be- und Entlastung kann zu einer Schwächung des Immunsystems und zu Schäden an Gelenken, Knochen, Sehnen, Bändern und Muskeln führen. Wird trotz Erkrankung oder Herz-Kreislauf-Beschwerden weiter trainiert, kann es zu Herzmuskelentzündungen, Herzversagen oder sogar zum Herzstillstand kommen. Vor allem bei Frauen treten häufig hormonelle Störungen auf. Die Regelblutung bleibt aus und es kann zu einer Abnahme der Knochendichte, bis hin zu Osteoporose kommen. Franzi bekam ihre erste Periode mit 22. Durch ihre Mager- und Sportsucht hatte sie vorher keine Periode und hat nun ein sehr hohes Osteoporose-Risiko.
Sowohl Karsten Henkel als auch Franzi wünschen sich mehr Aufklärung zu diesem Thema. Studien und Forschungen gibt es bisher kaum. Um anderen zu helfen hat die 23-Jährige einen Instagram Account gestartet und macht sich gerade als Coach selbstständig. Sie möchte andere auf ihrem Weg raus aus der Sportsucht unterstützen. Franzi glaubt, dass es Betroffenen hilft, mit jemandem zu sprechen, der das Gleiche durchgemacht hat und von seinen eigenen Erfahrungen berichten kann. Sie selbst hat heute einen deutlich gesünderen Alltag. Es dreht sich nicht mehr alles um Sport, gesunde Ernährung und das „perfekte“ Aussehen. Ihr Ziel ist ein erfülltes Leben ohne Kontrolle und Zwang.