Wo Kinderseelen weinten

Wo Kinderseelen weinten

Inmitten der idyllischen Landschaft des Hochschwarzwalds in Saig ragt am Waldrand ein Haus empor. 1972 verbarg sich Hinter der Fassade ein Kinderkurheim. Strenge Regeln und düstere Erlebnisse standen an der Tagesordnung. Für viele Kinder wurde dieser Ort zum Albtraum.

Inmitten der idyllischen Landschaft des Hochschwarzwalds in Saig ragt am Waldrand ein Haus empor. 1972 verbarg sich Hinter der Fassade ein Kinderkurheim. Strenge Regeln und düstere Erlebnisse standen an der Tagesordnung. Für viele Kinder wurde dieser Ort zum Albtraum.

Es war früh am Morgen um sechs Uhr, als der Küchentrupp den klapprigen Küchenwagen in das Kinderschlafzimmer rollte. Der Wagen voll mit Suppe. Einer dicken, fetten Vanillesuppe. Im Bett liegend musste diese aufgegessen werden. Wer nicht aufaß, durfte nicht aufstehen. So begann jeder Tag für die Kinder in dem Verschickungsheim in Saig im Hochschwarzwald. So auch 1972 für die damals siebenjährige Barbara Claywell, die gehorchend den ekligen Schleim aufaß. Erzählt sie heute mit bedrückter Stimme.

In den 50er bis 80er Jahren wurden mehrere Millionen Kinder in ganz Deutschland meist auf ärztliche Anordnung in sogenannte Kinderkurheime geschickt. Verschickt wurden Kinder mit diagnostizierten chronischen Krankheiten, Unterernährung oder allgemeiner Schwäche. Herr Professor Dr. Keitel, Leiter des Projektes „Aufarbeitung Kinderverschickung Baden-Württemberg“ des Landesarchivs Baden-Württemberg bestätigt: „Man wollte die Kinder herausholen aus ihren Familien und ihre Gesundheit fördern. Sie sollten in ein ländliches Gebiet kommen, in dem es eine bessere Luft gab, als in den Städten.“ In den Heimen herrschte ein sehr strukturierter, strenger Umgang, der viele der Verschickungskinder heute an die Erziehungsmaßnahmen der NS-Zeit erinnert. Nicht selten wurden die Kinder körperlich und psychisch misshandelt. Herr Keitel erklärt: „Wir konnten nachweisen, dass verschiedene Personen in den Heimen tätig waren, die zuvor im Nationalsozialismus politisch aktiv waren und vermutlich nicht ihre Gedanken von gestern auf heute abgelegt hatten.“

Die Tanten

Verantwortlich für die strengen Regeln waren Erzieherinnen, sogenannte Tanten. Erinnert sich Barbara zurück. Die meisten waren junge Frauen. Zwischen sechzehn und zwanzig Jahre alt. Die Heimleiterin in Saig war Tante Sonja. Eine große, rothaarige, strahlende Frau. Nett nahm sie die Kinder in Empfang, als sie am ersten Tag von ihren Eltern in das Heim gebracht wurden. Sofort streckte die fröhliche Tante den Kindern ihre Hand entgegen und zeigte die Unterkunft für die nächsten Wochen. Dann der erste Schock:. Es gab keinen Abschied. Von jetzt auf gleich waren die Eltern weg. Keine Umarmung, wie die Kinder es eigentlich aus ihrem Elternhaus kannten. „Ich war dann halt dort und musste mich eingliedern“, so empfand Barbara den Abschied damals. Die nette und fröhliche Tante Sonja bekamen die Kinder nie mehr zu Gesicht. Sie war nur das fröhliche Aushängeschild für die Eltern.
In dem Heim hatte Tante Keti das Sagen. „Die war ganz schlimm, vor der hatten alle Angst“, erzählt Barbara ernst. Eine barsche, verbitterte Frau. Nicht besonders groß, ihre Haltung war gebückt und sie trug jeden Tag einen strengen Dutt. Mit ihren grauen Haaren sah sie schon sehr alt aus, war aber erst Anfang 50. Das Ebenbild einer Tyrannin; wie eine Diktatorin im Heim. Alle jungen Kindertanten machten, was Keti sagte. Barbara erinnert sich, dass sie streng war. Nein, bei reiner Strenge hätte man noch einen erzieherischen Wert finden können. Sie war beherrschend. „Die haben uns nicht Kind sein lassen“. Stellt sie heute beunruhigt fest. Herr Keitel erklärt, dass damals nicht auf den Willen der Kinder gehört wurde und man sich vorgenommen hatte, diese  zu "vollwertigen" Mitgliedern der Gesellschaft zu erziehen. Rücksicht auf ihre Vorlieben oder Abneigungen konnte dabei nicht genommen werden. Dies wurde zudem durch die Personalknappheit in den Heimen verstärkt, die dazu führte, dass die Kinder alle mehr oder weniger über einen Kamm geschoren werden mussten.

„Es wurde wenig gelacht. Obwohl dort so viele Kinder waren."
Barbara Claywell

„Es wurde wenig gelacht. Obwohl dort so viele Kinder waren."
Barbara Claywell

Der Alltag voller Zwang und Strenge

Jeden Morgen zum Frühstück gab, es durchweichte Marmeladenbrote. Barbara erinnert sich, dass sie und die anderen Kinder zum Essen gezwungen wurden. Mit vollem Magen mussten sie wandern gehen, in einer Reihe, alles ganz streng reguliert. Körperertüchtigung wurde das damals genannt. Nach dem Mittagessen um zwölf Uhr mussten sich alle Kinder auf der Veranda versammeln. Auf der großen, langen Terrasse standen Holzliegen, alle in einer Reihe. Jedes Kind bekam eine Liege zugeteilt. Mit Decken wurde man so eng umwickelt, dass man sich kaum mehr bewegen konnte. Die Arme ganz nah an den Körper gepresst. Alle mussten ganz still sein. Bloß keine Bewegung. Es sollte geschlafen werden. Zwei oder zweieinhalb Stunden ohne einen Mucks. Sonst kam die Tante mit der Holzklatsche. Ein Schläger aus Holz, mit kleinen Löchern, dass man ihn auch gut schwingen konnte. Wurde gesprochen oder sich bewegt, bekam man die Klatsche. Barbara verhielt sich ganz still. Sie wollte ja nicht geschlagen werden. Sie erinnert sich nachdenktlich, dass die stundenlange Liegekur niemandem gefallen habe. Die Angst, geschlagen zu werden, war aber zu groß.
Nach dem langen Stillliegen ging es wieder zum Essen. Zur Vesper. Unter Vesper verstand Barbara eigentlich ein leckeres Stück Kuchen oder einen knusprigen Keks mit Kakao. Das gab es aber nicht. Nachmittag für Nachmittag mussten die Kinder wieder durchweichte Marmeladenbrote essen. Eine Stunde später das Abendessen. Das schlimmste Abendessen, an das Barbara sich erinnert, war der Tag, als mittags Blaubeeren gepflückt wurden. „Ich habe mich so auf die saftigen Beeren gefreut“, erzählt sie und hält kurz inne. Am Abend dann die Realität: Aus den strahlenden Beeren verarbeitete das Heim trockene Blaubeerpfannkuchen. „Ich war total enttäuscht, wie eklig das schmeckte,“ sagt sie nüchtern. Barbara wurde gezwungen zu essen. Dann wurde ihr schrecklich übel. So übel, dass sie aus dem Speisesaal stürmte. Vor der Toilette brach sie zusammen und übersäte den Fußboden mit den gerade gegessenen Pfannkuchen. „Das war schrecklich, weil das super eklig war. Das war mir unendlich peinlich.“ Erinnert sie sich heute noch. So ging es vielen Kindern. Die Kinder mussten im Speisesaal so lange vor ihrem Essen hocken, bis sie es gegessen hatten. Manche sogar mehr als zwei Stunden. Wer nicht mehr konnte, übergab sich auf den Tisch. Alle anderen sollten zuschauen, wie sich die Kinder mit ihrem Essen quälten. Barbara hörte andere Kinder rufen: „Nein, ich möchte das nicht mehr essen“. Doch es wurde immer wieder gesagt: „Du musst das essen.“ Barbara fügt mit bedrückter Stimme hinzu: „Wer gar nicht gegessen hat, der wurde geschlagen oder bestraft.“

Strafe und Kontrolle

Barbara erzählt beunruhigt von dem Teil des Tages, vor dem allen Kindern angst und bange war. Sie mussten sich ausziehen, ganz nackt in den Bademantel schlüpfen und vor dem Medikamentenzimmer Schlange stehen. Im Zimmer wartete die furchteinflößende Tante Keti. Jedes Kind wurde gezwungen vor ihr anzutreten und ohne Widerrede eine Handvoll unbekannter Medikamente zu schlucken. Manche Kinder weigerten sich, kniffen ihre Lippen zusammen. Sie nahm dann das Kind in ihre Armbeuge, drückte kräftig zu und schob ihre Hand samt Medikamenten in den Mund. Oft zog sie besonders den Jungs auch an den Ohren. Mindestens einmal musste Barbara mit ansehen, wie Tante Keti kleine Jungen schlimm verprügelte. Mit der Holzklatsche. Berichtet sie erschrocken. Barbara nahm immer ihre Medikamente. Ihr blieb nichts anderes übrig. Die Angst war zu groß, bestraft zu werden. Sie hatte es so oft bei den anderen Kindern gesehen.
Nach der Medikamenteneinnahme spürte Barbara sofort, wie sie müde und schlapp wurde. Irgendwie lustlos. Sie fühlte sich wie ausgeknockt. Als hätte man den Kindern die Medikamente gegeben, damit geschlafen wird. Erinnert sich Barbara heute voller entsetzen. Dann ging es sofort ins Bett. Zwölf Stunden schlafen. Bis der Küchentrupp mit dem Brei morgens die Kinder wieder weckte.
Herr Keitel betont: „Die Kinder wurden einem strengen Reglement unterworfen. Viele durften keinen Kontakt zu ihren Eltern aufnehmen. Briefe wurden vorgegeben, dass sie eine schöne Welt vorgaukeln sollten.“

Barbara erinnert sich, dass der Kontakt zu den Eltern nur wenig möglich war. Anrufe nach Hause waren nicht gestattet. Das machte zu viel Heimweh. Briefe durfte sie von zuhause empfangen. Die Kinder durften auch antworten. Im Flur hing ein Hausbriefkasten. Wenn jemand einen Brief nach Hause verschicken wollte, musste der Brief dort hineingeworfen werden, natürlich geöffnet. Aufmerksam lasen die Tanten alle Briefe, bevor diese an die Eltern gingen. „Ein Briefgeheimnis gab es nicht,“ erzählt Barbara eindrücklich. Die Kinder, die einen kritischen Brief geschrieben hatten, mussten sich in die Mitte stellen. Vor allen wurde der Brief vorgelesen. Lauthals stellten die Tanten das Kind zur Rede: „Was hast du denn da geschrieben?, Dir schmeckt das Essen nicht?, Das kannst du nicht schreiben.“ Die Tanten hielten den Brief in die Luft. Vor allen wurde er zerrissen. Mit den Worten: „Das musst du nochmal neu schreiben.“ Viele Kinder weinten.

Barbara beschreibt ernst die Darauf folgenden Bestrafungen. Es wurde an den Ohren oder an den Haaren gezogen oder geschlagen. Geohrfeigt, bis das kleine Kindergesicht von den Schlägen rot anlief. „Das war schlimm. Natürlich lernt man dann als Kind, sich anzupassen, damit man möglichst den Kindertanten angenehm genug ist, dass sie einen bloß nicht ebenfalls züchtigen“, erinnert sich Barbara. Die körperliche Züchtigung war aber nur die leichteste Strafe. Manche Kinder wurden eingesperrt. Stundenlang. Alleine in der Toilette. Ein großer Raum mit sechs oder sieben Kabinen nebeneinander ohne richtige Absperrung. Es gab keine Privatsphäre. Die schlimmste aller Bestrafungen aber war „das Gefängnis“, so nennt es Barbara heute. Die Kinder, die besonders negativ aufgefallen sind, meistens Jungs zwischen zehn oder elf Jahren, mussten bei der schrecklichen Tante Keti übernachten. Oben, unter dem Dach, war ihre private Schlafkammer. Angrenzend zu ihrem Schlafzimmer gab es einen schmalen Gang. Dieser führte in eine Art Wohnraum. Dort stand ein Fernseher und einige Betten. Kinderbetten. Besonders aufmüpfige Kinder mussten fortan direkt unter ihrem Regiment leben. Barbara beschreibt das als die Höchststrafe. Eine Nacht oder zwei oder drei. Oder sogar mehrere Wochen. Manche Kinder mussten auch ihren ganzen Aufenthalt im „Gefängnis“ verbringen. Normalerweise handelte es sich dabei um circa sechs bis acht Wochen.
Herr Keitel erklärt: „Die Kinder waren traumatisiert und oft verstört und viele wussten gar nicht, ob sie überhaupt noch nach Hause kommen, weil man ihnen das nicht sagte. Und hatten Angst, dass sie jetzt immer im Heim bleiben müssen.“

Eine Kindheit ohne Heilung

Barbara wurde insgesamt sechs Mal nach Saig verschickt. In den Jahren 1972 und 1973 verbrachte sie insgesamt 46 Wochen in der Kinderkur im Hochschwarzwald.
Ihren Eltern erzählte sie damals nicht von den Geschehnissen vor Ort. Zu groß war die Hoffnung, man könne dort ihre Krankheit heilen. Als Kind erlitt sie mehrere male im Monat schwere Erstickungsanfälle. Sie lief blau an. „Meine Eltern hatten Angst, ich würde irgendwann nicht mehr aufwachen“. Man nahm damals jede Hilfe an, die man bekommen konnte. Niemand wusste, dass die Kinderkuren nichts halfen. Im Nachhinein weiß Barbara: „Die Zeit im Schwarzwald war komplett nutzlos und sinnlos. Das hat nichts Positives gebracht für mein Leben und auch nicht für meine Familie. Es hat mich von meiner Familie entfremdet. Deswegen ist bei mir etwas passiert, was ich nur als Entwurzelung bezeichnen kann.“

Das Leben danach

Heute ist sie immer noch genauso krank wie damals. Doch jetzt mit Diagnose: Asthma. 2024 ist die Medizin viel weiter als in den 70ern und Barbara kann mit den richtigen Medikamenten ein unbeschwertes Leben führen.

Vor zwanzig Jahren entscheidet Barbara ihr altes Leben hinter sich zu lassen.

Vor zwanzig Jahren entscheidet Barbara ihr altes Leben hinter sich zu lassen.

„Die Vergangenheit war zu schwer für mich, weil ich so früh und so lange weg war von meiner Familie.“ Sie wandert nach Amerika aus. Die Kinderfotos, das Babyalbum, alles muss weg. Resetknopf – ein völliger Neuanfang. „Das war für mich mein Weg, radikal einfach nur noch zu leben. Ich will leben. Ich will im Hier und Jetzt leben. Ich kann mich nicht belasten mit der Vergangenheit.“ erklärt sie voller entschlossenheit. Heute führt Barbara ein Leben ohne Zwänge und Reglementierungen. Ein anderes Leben als damals im Kinderheim im Hochschwarzwald.