„Zurückhaltung ist eine Kunst, die wir üben.“
Eine Ausbildung im Zuhören
Hinter den Brillengläsern leuchten die Augen von Emily Avila so intensiv, dass sie ihre Mundwinkel nicht einmal anheben müsste, um glücklich zu wirken. An diesem Nachmittag scheint sie mit sich selbst sehr im Reinen zu sein. Noch einige Jahre zuvor war das nicht der Fall: Avila ist verheiratet, mehrfache Mutter und eine Führungskraft mit etwa einhundert Mitarbeitenden. Doch dann bricht 2015 ihre Welt zusammen. Die Erkenntnis über das schreckliche Schicksal eines Familienmitglieds stürzt sie in eine schwere Depression. Jahrelang kämpft sie gegen die Krankheit und richtet ihr Leben dabei völlig neu aus.
Inzwischen arbeitet sie als ehrenamtliche Mitarbeiterin bei der TelefonSeelsorge Stuttgart und nutzt ihre eigene Krisenerfahrung, um anderen Menschen zu helfen. Die Ausbildung zur Seelsorgerin veränderte ihren Blick auf das Leben nachhaltig.
Die TelefonSeelsorge Stuttgart e.V. wurde im Jahr 1960 gegründet und ist eine von 105 bundesweiten Stellen. Das Versprechen lautet: „Wir sind für dich da: 24 Stunden, vertraulich, anonym, kostenfrei.“ Dabei können die seelsorgerlichen Gespräche per Telefon, Chat oder Mail stattfinden.
Die TelefonSeelsorge (TSS) lebt vom Engagement der ehrenamtlichen Mitarbeitenden. Anders könnte die hohe Nachfrage nicht bewältigt werden: Allein im Jahr 2021 klingelte das Telefon der Stuttgarter TSS 15.305 Mal. Dabei waren depressive Stimmungen, Ängste und Einsamkeit die drei häufigsten Gesprächsthemen – auch suizidale Gedanken wurden regelmäßig angesprochen.
Avila hält während des gesamten Interviews Blickkontakt – selbst dann, als sie sich an ihren persönlichen Tiefpunkt zurückerinnert: „Wenn Anrufende davon berichten, nicht mehr leben zu wollen, weiß ich, wie sich das anfühlt,“ sagt sie. Acht Jahre zuvor durchlebt sie die schlimmste Nacht ihres Lebens. In Tränen aufgelöst entscheidet sie sich für den Griff zum Telefon und wählt die Nummer des Weißen Rings − einer telefonischen Anlaufstelle für Verbrechensopfer. „Stundenlang habe ich mit dieser fremden Frau gesprochen. Sie hat mich aufgefangen.“
Als sich ihr Zustand bessert, wächst in Avila der Wunsch, anderen Menschen ebenfalls in Krisensituationen beizustehen. Im Jahr 2022 beginnt sie als Teil einer zwölfköpfigen Gruppe ihre Ausbildung bei der TSS. Heute ist sie eine von 115 ehrenamtlichen Mitarbeitenden in Stuttgart.
Der Weg ins Ehrenamt führt durch das eigene Leben
Wer sich auf einen Ausbildungsplatz bewirbt, muss zunächst ein Auswahlverfahren durchlaufen. „Wir suchen Menschen, die im Leben stehen und womöglich bereits eigene Krisen überwunden haben,“ sagt Martina Rudolph-Zeller, Leiterin der Stuttgarter TSS. Mit einem Verhältnis von 3:1 arbeiten überwiegend Frauen in dem Ehrenamt. Der Männeranteil nehme jedoch stetig zu. Außerdem freut sich Rudolph-Zeller über eine gute Mischung in der Zusammensetzung der Altersgruppen und der beruflichen Hintergründe.
Den Auftakt der Ausbildung bildet ein Selbsterfahrungswochenende. Ziel sei es, die eigenen Ecken und Kanten kennenzulernen, um später zwischen persönlichen Themen und denen von Anrufenden differenzieren zu können, so Rudolph-Zeller.
Ein wenig Nostalgie schwingt in Avilas Worten mit, wenn sie über dieses Wochenende spricht. Es sei, so sagt sie, ihre schönste Erinnerung an die Ausbildung. „Wir sind in 36 Stunden auf eine Art zusammengewachsen, wie ich es nie zuvor erlebt hatte. Ich wusste von keinem der Anwesenden das Alter, den Beruf oder den Familienstand. Aber ich habe gelernt, was diese Menschen im Leben geprägt hat und was sie heute ausmacht.“
Insgesamt beträgt der Umfang der Ausbildung dreihundert Stunden. Regelmäßige Supervisionen und Fortbildungen sollen der Qualitätssicherung dienen. In dieser Zeit erlernen die Auszubildenden unter anderem die Grundlagen einer guten Beratungsarbeit, sowie die personenzentrierte Gesprächsführung nach dem Psychologen Carl Rogers. Im Zentrum steht dabei der Gedanke, dass die Lösungen aller Probleme im Menschen selbst liegen. Eigenverantwortung und Selbstbestimmung sind daher die wichtigsten Prinzipien. Die Mitarbeitenden der TSS sollen Interpretationen, Ratschläge oder lenkendes Verhalten vermeiden. Stattdessen soll ihre Beratung die Reflexionsprozesse und persönlichen Kompetenzen der Hilfesuchenden fördern.
Die Auszubildenen lernen im Kern, wie gutes Zuhören funktioniert, welche Fragen das Gespräch in eine konstruktive Richtung lenken, welchen sprachlichen Feinheiten einen Unterschied machen und wie sie mit Schweigeanrufe umgehen können. Das sei zu Beginn oftmals eine große Irritation, erklärt Rudolph-Zeller: „Wir nehmen ihnen ihr normales Kommunikationsverhalten weg.“ Die Versuchung, doch Ratschläge zu geben, sei groß: „Zurückhaltung ist eine Kunst, die wir üben.“
Avila hat diese Herausforderung gemeistert und arbeitet mittlerweile seit drei Wochen bei der TSS. Neben ihrem Vollzeitjob nimmt sie sich jeden Monat 15 Stunden Zeit für ihr Ehrenamt. Seit 2015, so sagt sie, habe sie ihr Leben in vielerlei Hinsichten umgestaltet: Sie lernte sich selbst und ihr Wertesystem kennen, verließ ihren Freundeskreis und orientierte sich beruflich neu. Ein großer Schritt war für sie auch der Kontaktabbruch zu ihren Eltern. Ihre Mutter habe ihre psychische Erkrankung nie akzeptiert: „Mein großer Schmerz im Leben ist, dass sie mich nie so geliebt hat, wie ich bin. Nur so, wie ich ihrer Meinung nach sein sollte.“ Immer wieder wird Avila während der Ausbildung und im Ehrenamt mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Drei Wochen nach dem Kontaktabbruch zu ihrer Mutter führt sie erstmals im Alleingang ein Telefonat bei der Seelsorge: „Der erste Satz der Anruferin lautete: Ich hasse meine Tochter.“ Das habe ihr beinahe den Boden unter den Füßen weggezogen, erinnert sie sich.
Das bislang emotionalste Gespräch führt sie kurze Zeit später mit einem jungen Mann, dessen Zwillingsbruder sich wenige Tage zuvor das Leben genommen hatte. Avila hält im Interview einen Moment lang inne und wählt ihre Worte sorgfältig aus. „Das hat mich noch lange begleitet. Aber es hat mich nie verfolgt,“ sagt sie schließlich. Denn in der Ausbildung habe sie die Fähigkeit erlernt, Gespräche in den Räumen der Seelsorge zurückzulassen und die Grenzen des Angebotes zu akzeptieren.
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Ziel der Beratungsarbeit per Telefon und Chat sind meist nicht langfriste Veränderungen, sondern vielmehr ein Zustand der Stabilisierung.
„Wenn ich auflege, bleiben die Anrufenden mit denselben Problemen zurück – das ist die Wahrheit."
Im Mittelpunkt steht die Frage, wie ein schwieriger Tag oder ein schlechter Moment gut überstanden werden kann. „Ich kann die Welt nicht retten, ich kann auch diese Menschen nicht retten. Wenn ich auflege, bleiben die Anrufenden mit denselben Problemen zurück – das ist die Wahrheit,“ sagt Avila.
Martina Rudolph-Zeller betont dennoch die Wichtigkeit dieser Gespräche: „Für einen Moment, für die Dauer des Kontaktes waren die Menschen nicht alleine. Und das ist extrem viel.“
Aus eigener Erfahrung weiß Avila, dass das stimmt. Seit ihrem Anruf beim Weißen Ring hat sich viel verändert – vor allem sie selbst: "Heute ziehe ich meine Wertigkeit nicht mehr aus Erfolg. Sondern daraus, warm zu anderen zu sein. Jemanden in den Arm zu nehmen, wenn ich kann. Jemandem zuzuhören."
Avila arbeitet noch immer als Führungskraft. Nur hat sie nicht mehr einhundert Mitarbeitende, sondern sechs. „Heute,“ so sagt sie, „frage ich, wie es den Menschen geht.“
*Der Name der Protagonistin wurde geändert, ist der Redaktion jedoch bekannt.