„Wir schaffen eine Plattform für Bedürftige, wo nicht nur andere über sie reden. Wir schaffen es, ihnen ein Gesicht zu geben.“
Von der Straße ins Ehrenamt
Wo Hipster auf Obdachlose treffen: rechts teure Restaurants wie eine "Eismanufaktur" mit exotischen Sorten wie Zitrone-Basilikum oder ein schicker Japaner, links die Kirche St. Maria. Menschen eilen mit großen Einkaufstaschen und leckerem Essen auf der Hand an den Bedürftigen unter der Paulinenbrücke vorbei. Skater*innen üben ihre Tricks vor den Türen der Kirche. Und mittendrin: "Harrys Bude". Ein kleiner Container mit der Aufschrift „Pedelec Probierstation“. Sechsmal die Woche verteilen hier Ehrenamtliche von 10 bis 17 Uhr gerettete Lebensmittel kostenlos an Bedürftige. Täglich kommen etwa 200 Menschen zur Bude an den Österreichischen Platz. Harry Pfau (60) hat das Verteilerkonzept mitentwickelt.
War dir bewusst, dass so viele Menschen bedürftig sind?
In dem Umfang noch nicht. Und wir kommen an manche Leute, die bedürftig sind, im Prinzip noch gar nicht ran. Dabei stehen wir vor der Herausforderung: Wie kann ich diese Leute versorgen, aber ihre Würde wahren?
Harry schaut mich mit seinen kleinen, freundlichen Augen an. Wie immer trägt er eine orangefarbene, ärmellose Weste. Sie zählt zu seinen Markenzeichen, genauso wie sein weißer, kurzer Vollbart und die Halbglatze. Dieses Gesicht wacht auch auf einer blau-braunen Fahne mit der Aufschrift „Harrys Bude – Essen Fair Teilen“ über den Platz bis zur Paulinenbrücke.
Nach deiner Kindheit im Kinderheim hattest du einen normalen Job. Was ist dann passiert?
Damals kamen ein paar Umstände zusammen. Ich hatte auch Alkoholprobleme. Dann habe ich dreizehn Jahre auf der Straße gelebt. Ich hab’s aber geschafft, auf der Straße vom Alkohol wegzukommen, seit sechs Jahren. Von vielen Seiten höre ich immer wieder: „Wie hast du das hinbekommen?“
Hättest du dir damals so einen Lebensmittelverteiler gewünscht?
Ja, klar. Aber damals war das noch nicht so weit. Wer weiß, für was das alles gut war, dass es so gekommen ist. Es gab immer jemanden, der gesagt hat: „Du wirst irgendwann mal sowas machen.“ Der hat das geahnt, aber ich konnte mir das nicht vorstellen. Als ich auf der Straße gelebt habe, habe ich immer einmal in der Woche einer Organisation geholfen, die immer donnerstags hierhergekommen ist und Suppe verteilt hat.
So wie ich dich kenne, bist du ziemlich konsequent und hast manchmal einen etwas raueren Ton…
So musst du auch sein. Das ist ein schmaler Grat, auf dem du wandelst. Manchmal …
Wir werden mit einem „Harry, kann ich kurz stören?“ von einem Mann unterbrochen. Kein Wunder, wir sitzen direkt vor der Bude und es ist viel los vor der Kirche. Natürlich darf er kurz stören – Harry ist bei Fragen sofort zur Stelle und hilft, wo er kann. Als Hauptverantwortlicher sieht er das als seine Aufgabe. Nach zwei Minuten kommt er zurück zur türkisen Bank, an der mittags warmes Essen verteilt wird.
Der Vorteil, den ich habe, ist, dass ich weiß, wie du mit Obdachlosen oder Bedürftigen umgehen musst. Da kommst du ab und zu nicht damit weiter, immer schön lieb zu sein.
Du kannst dich schließlich gut in die Bedürftigen hineinversetzen.
Wenn du auf der Straße lebst, dann wird dir erstmal einiges bewusst. Wenn du morgens aufstehst, dann denkst du: „Wo kann ich jetzt hingehen aufs Klo? Wo krieg ich einen warmen Kaffee her?“ Das sind alles so Bedürfnisse, über die machst du dir normalerweise keine Gedanken.
Jetzt arbeitet Harry sechsmal die Woche am Lebensmittelverteiler. Eine eigene Wohnung hat er nicht. Er wohnt in einem Hotel, bezahlt von der Stadt. Hartz 4 bringt ihn über die Runden. Für "Harrys Bude" wird er nicht bezahlt. Er macht alles ehrenamtlich.
Was machst du, wenn du mal nicht hier bist?
Die Arbeit bei "Harrys Bude" füllt ganz viel Zeit aus. Vielleicht bin ich dadurch auch ein bisschen geschickter durch den Lockdown gekommen, weil ich laufend etwas zu tun hatte. Im Prinzip bin ich sogar sieben Tage in der Woche beschäftigt, weil ich sonntags am Marienplatz bei "Supp_optimal" aushelfe. Und vielleicht war das mein Vorteil im Lockdown: Du hast eine Aufgabe, musst nicht daheim rumhocken und dir Gedanken machen, was du den ganzen Tag machen sollst.
Nicht nur für seine Arbeit, auch für seine Persönlichkeit und sein Durchhaltevermögen wird Harry sehr bewundert. Im April ist Harry 60 geworden. An diesem Tag überraschten ihn alle Ehrenamtlichen, es gab Kuchen und andere Leckereien. Circa 60 Leute engagieren sich bei "Harrys Bude", dazu kommen noch Menschen von Food-Sharing und "Supp_optimal". Alle unterstützen und schätzen Harry sehr.
Wie geht es dir damit, dass dich so viele Menschen so gerne haben und dich für deine Arbeit bewundern?
Es überrascht mich ein bisschen. Wir zeigen einen Weg auf, wie man es machen kann. Wenn wir das Verteiler-Konzept auf andere Stadtteile übertragen, dann können wir sagen: „Guck mal, da kannst du dir was holen und wirst anständig behandelt.“ Um das geht‘s. Gleichzeitig schaffen wir eine Plattform für Bedürftige, wo nicht nur andere über sie reden. Wir schaffen es, ihnen ein Gesicht zu geben. Wir hatten mal eine Idee, da kam aber Corona dazwischen, dass wir eine Demonstration mit Obdachlosen, Bedürftigen oder auch Ex-Obdachlosen machen. Wo wir vor dem Rathaus demonstrieren, aber nicht nach einer Stunde verschwinden. Wir bleiben ein, zwei Wochen vor Ort und übernachten dort. Und jedem, der abends aus dem Büro oder irgendwie vorbeikommt, den fragen wir: „Guck mal, willst auch mal draußen übernachten?“ Dass sie verstehen, wie es ist, obdachlos zu sein.
Wie so oft spricht Harry lieber von anderen als von sich. Auch wenn er das Gesicht des Verteilers ist und große Verantwortung trägt, betont er immer wieder, wer alles dahintersteckt. Er redet gerne darüber, wie das Thema Obdachlosigkeit in Stuttgart vernachlässigt wird, wie die Schere zwischen Arm und Reich irgendwann unsere Gesellschaft zerstören wird. Wie das System „unausweichlich“ scheitern wird.
Da wirkt ihr wenigstens ein kleines bisschen dagegen.
So ist es. Wir geben unser Bestes, aber ob das ausreicht, ist ein ganz anderes Thema. Und vielleicht werden wir irgendwann sagen: „Es geht nicht mehr.“ Du wirst immer auf Menschen treffen, die sich nicht helfen lassen wollen. Aber wenn ich einem Drogensüchtigen einmal am Tag was zum Essen geben kann, dann reicht ihm das. Das Essen muss er dann nicht mehr klauen gehen. Damit habe ich einen kleinen Erfolg, der sogar relativ groß ist, finde ich. Denn dafür muss er nicht ins Gefängnis.
"Harrys Bude" wurde im August 2020 eröffnet, zunächst als achtwöchiges Testprojekt, dann dauerhaft. Während viele Menschen durch Corona in Kurzarbeit gehen mussten oder ihren Job verloren, verteilte die Bude weiter kostenlos Lebensmittel an alle, die sie benötigen.
Würdest du sagen, "Harrys Bude" wurde zur rechten Zeit aufgemacht?
Zum richtigen Zeitpunkt, ja. Am Anfang war das noch ein bisschen einfacher für uns, als Corona noch nicht ganz so heftig war. Da konnten die Leute etwas Zeit bei uns verbringen. Beim zweiten Lockdown wurde das schwieriger, es ist auch jetzt noch ein bisschen schwierig. Aber wir haben damals bei der Vesperkirche gemerkt, dass wir einer der wenigen Orte waren, wo sich die Leute noch ein bisschen aufhalten konnten. Wir verteilen ja auch von "Supp_optimal" das Essen im Glas für alle. Wir haben uns gefragt: „Wie kann ich Bedürftige während Corona versorgen?“ Mit einem warmen Essen. Klar, geben wir auch Informationen weiter, wo sie sich hinlegen können. Wir haben im Winter viele Schlafsäcke ausgegeben und Isomatten. So hat sich das alles ein bisschen entwickelt. Wer weiß, wohin es sich weiterentwickelt?
"Harrys Bude" hat sich schon fast zu einer Marke entwickelt. Und es gibt bereits einen Ableger des Verteilers – der „kleine Bruder“ "Erwins Bude" am Erwin-Schoettle-Platz. Unterstützen kann man "Harrys Bude" immer mit Geld- oder Essensspenden, ehrenamtlichen Engagement oder Kleinigkeiten, wie Tüten für die Lebensmittel.
Denkst du, dass Corona die Chance für einen Neuanfang ist?
In vielen Bereichen ja, du musst es nur wollen. Aber da gibt’s gerade schon Tendenzen in die andere Richtung. Vielleicht brauchst du solche Sachen wie "Harrys Bude", um zu zeigen: Leute es geht auch anders. Klar, es passt wieder nicht in die Norm. Aber vielleicht haben wir hiermit die Möglichkeit, ähnliche Konzepte in anderen Stadtteilen anzuschieben.