Zwangsarbeit mit Heiligenschein?
Es ist die Spannung zwischen Arm und Reich, zwischen Jung und Alt, zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Sie zerrt bedrohlich am Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Als „eher schlecht“ oder „sehr schlecht“ bewerten 64 Prozent der Deutschen das gesellschaftliche Miteinander im Jahr 2022. Damals veröffentlichte die ARD eine repräsentative Studie und führte vor Augen, was die meisten spürten. Die Politik weiß, sie muss handeln.
Ein Vorschlag: Die soziale Dienstpflicht. Der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bringt sie 2021 erneut auf den Tisch. Alle Bürger*innen sollen für eine gewisse Zeit anpacken, im sozialen oder ökologischen Bereich. Dabei würden Räume der Begegnung geschaffen, Menschen würden das Denken und Handeln anderer Personen verstehen lernen und erkennen, was Einsatz für andere bewirken könnte. Der soziale Zusammenhalt könne dadurch gestärkt werden, so der Bundespräsident. Das klingt nach einem guten Ansatz, doch – es funktioniert nicht. Stattdessen nimmt es viel Freiheit und gibt der Gesellschaft wenig.
An dieser Stelle sei gesagt, dass der Bundespräsident später betont, seine vorgeschlagene Dienstpflicht müsse nicht ein ganzes Jahr umfassen und jeder Generation auferlegt werden. Doch immer wieder diskutiert wird das verpflichtende soziale Jahr für Schulabgehende.
In der Debatte immer wieder gerne betont: Die vielfältigen Auswahlmöglichkeiten an Einsatzstellen für ein Dienstjahr. Denn jeder soll sich frei entscheiden können. Doch klar ist, mehrmonatige Orientierungspraktika, Work & Travel oder Sprachschulen im Ausland stehen nicht mehr zur Option. Wer darauf nicht verzichten will, kann direkt ein zweites Jahr anhängen. Eine Entwicklung, die die Wirtschaft bei akutem Arbeitskräftemangel kritisch sieht.
Aber wenigstens haben alle ihre sozialen Kompetenzen poliert. Hier große Fehlanzeige. Mit der Pflicht kommt weder Offenheit noch Motivation. Die muss nach wie vor jeder selbst mitbringen. An wem bleibt das wohl hängen? Nicht nur an den möglichen Patient*innen, sondern auch an den Mitarbeitenden der Einsatzstellen. Kein Wunder, dass sich Verbände und Vermittlungsstellen für Freiwilligendienste klar gegen den Vorschlag positionieren.
Und selbst wenn ein paar das Jahr am Ende als positive Erfahrung abhaken, stünde das immer noch in keinem Verhältnis zu den milliardenhohen Kosten, die der Staat dafür verprassen würde.
Wobei ganz nebenbei darauf aufmerksam gemacht werden muss, dass solch eine Pflicht nach deutschem und europäischem Recht menschenrechtswidrig wäre. Denn sie kann weder als herkömmliche beziehungsweise allgemeine Bürgerpflicht gesehen noch als Ersatzdienst für eine nicht vorhandene Wehrpflicht eingeführt werden. Sie gälte vor dem Gesetz als Zwangsarbeit. Das, um zu zeigen, wie weit diese Debatte eigentlich von der Realität entfernt ist.
Die Meinungen der Parteien gehen trotz allem auseinander:
Bei diesen Mehrheitsverhältnissen bleibt nur ein Fazit: Umsetzung unrealistisch. Das Problem bleibt. Was kann man für den sozialen Zusammenhalt tun? Ein guter Anfang wäre es, auf folgende Zahlen zu schauen:
Richtig gesehen: Aktuell absolvieren hauptsächlich Abiturient*innen Freiwilligendienste. In der Statistik ist das veranschaulicht mit Blick auf das FSJ, das neben BFD (Bundesfreiwilligendienst) und verschiedenen internationalen Formaten in Deutschland angeboten wird. Außerdem wird klar, dass deutlich weniger Stellen für Freiwilligendienste angetreten werden, als ursprünglich nachgefragt.
Das bedeutet: Es müssen noch mehr Stellen durch finanzielle Förderung vom Staat geschaffen werden. Denn gerade in urbanen Regionen ist die Nachfrage oft noch höher als das Angebot. Dazu müssen Freiwilligendienste grundsätzlich noch attraktiver werden, besser vergütet, möglichst unabhängig vom Geldbeutel der Eltern, vorteilig für die Bewerbung auf Ausbildungs- und Studiengänge. Damit mehr junge Menschen ein FSJ antreten und bis zum Ende absolvieren. Und es muss mehr Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden, die besonders Schulabgehende anderer Schulformen anspricht.
Steinmeier sei beigepflichtet, es braucht mehr Menschen, die sich im sozialen Sektor engagieren, aber freiwillig, offen und gut begleitet. Denn es gibt vor allem einen Wert, der in unserer Gesellschaft gefördert werden muss, um den sozialen Zusammenhalt zu stärken: Freiwilliges Engagement.
Deine Meinung interessiert uns
Ja
Nein