Es ist beinahe ruhig im Amtsgericht Stuttgart. Erst vor wenigen Minuten wurden die schweren Glastüren aufgeschlossen. Nur ein Mensch läuft im Foyer rastlos auf und ab. Seine Stimme hallt durch den Raum, doch sie ist eigentlich für sein Telefon bestimmt. Grüne Hose, zugeknöpftes Hemd, graue zurückgegelte Haare, schwarze Brille. Er fügt sich gut in diese Institution. Dabei ist ihm die Welt der Rechtsprechung fern. Er ist Laie und wird im Prozess, der hier später stattfindet, trotzdem die Macht eines Richters haben.
Als der Anruf beendet ist, setzt sich Bernd Lienemann an einen runden Tisch. Seine Aktentasche lehnt am Fenster. Darin sind unter anderem Papierblock und Kugelschreiber, womit er sich nachher Notizen machen wird. Als Schöffe weiß er nichts über den Inhalt des Verfahrens. Das ist auch Sinn der Sache, sagt Bernd Lienemann. Schließlich soll er sich mit gesundem Menschenverstand ein Urteil bilden. Beim Sprechen spielt er an seinen Fingerkuppen, der rechte Arm liegt lässig auf der Armlehne des Stuhls. Immer wieder greift der Schöffe zu seinem Handy auf dem Tisch, um die Uhrzeit zu checken oder etwas aufzurufen: den offiziellen Leitfaden für Schöff*innen oder die heutige Ladung.
Der Prozess vor dem Prozess
Im Dezember 2023 war die letzte deutschlandweite Schöffenwahl. Gewählt wurden Bürger*innen aus „allen Bevölkerungsgruppen“, zwischen 25 und 70 Jahren, die nicht explizit durch ihren Beruf oder eine größere Straffälligkeit vom Amt ausgeschlossen sind. Die Gemeinden müssen aus ihren Einwohnenden Vorschlaglisten aufstellen, aus denen die Gerichte dann Haupt- und Ersatzschöff*innen ernennen. Wenn nicht genug Bewerbungen eingehen, können Menschen berufen werden. Aufgabe von Schöff*innen ist es, die ausgebildeten Richter*innen in Strafverfahren an Amts- und Landgerichten zu unterstützen. Etwa jeden Monat begleitet eine Person im Schöffenamt einen Fall, insgesamt fünf Jahre lang. Schöff*in sein ist ein Ehrenamt, das, sobald es angetreten wurde, allerdings verpflichtend ist.
Der Termin, in dem Bernd Lienemann heute Schöffe ist, ist die Fortsetzung einer Strafsache. Nur deshalb kennt er den Sachverhalt, bevor die Sitzung beginnt. „Furchtbar“, beschwert sich der Schöffe kopfschüttelnd über die, wie er es nennt, Trägheit des deutschen Rechtssystems, die im heutigen Verfahren beinahe komisch wirkt. Auf einen Polizisten in Elternzeit folgt eine Staatsanwältin in Elternzeit. Einem verängstigten Zeugen wird die Anonymität verwehrt, zugleich wurde vergessen, ihn zur Hauptverhandlung einzuladen. Daher muss der Fall an diesem Donnerstagmorgen nochmal aufgerollt werden.
Einfluss von politischen Parteien
In einer CDU-internen Rundmail sei auf die Bewerbungsphase für Schöff*innen aufmerksam gemacht worden. 1400 Bewerbungen gab es in der letzten Schöffenwahl, sonst waren es meist um die 900, vergleicht Lienemann und beginnt dabei zu flüstern. Es sei nicht auszuschließen, dass dieser Anstieg mit den Aufrufkampagnen der AfD zu tun hat, oder mit dem Bestreben anderer Parteien dem etwas entgegenzusetzen. Bernd Lienemann überlegt: Wenn zwei AfDler im Verfahren sitzen würden, könnte der Richter nichts tun. „Obwohl ich glaube, dass Herr Buchen sicher etwas sagen würde, wenn ein Schöffe sagen sollte ‚Scheiß Kanacken‘ “. Die Worte klingen fehl am Platz in seinem Mund.
Matthias Buchen ist Richter im Amtsgericht und dort für die Schöff*innen verantwortlich. Lienemann spricht nur in höchsten Tönen von ihm und seinen Kolleg*innen. „Da ist kein Radikaler dabei, das sind alles ganz normale Leute“, versichert Lienemann. Alle würden sich viel Mühe geben, unvoreingenommen zu sein. Heute zum Beispiel seien zwei Männer aus Afghanistan tatverdächtig, das Opfer kam aus Syrien, wurde aber schon vor zwei Jahren wieder abgeschoben. „Das ist doch gefundenes Fressen für die AfD“, sagt Lienemann, und fügt gleich hinzu, dass er keine Vorurteile gegenüber den Männern habe.
Auch interessant
Verfahrensvorbereitung
Das Foyer füllt sich langsam, an Lienemanns Tisch laufen geschäftig wirkende Anwält*innen vorbei. Ein weiterer Mann betritt den Raum, er trägt ein beiges Hemd, Glatze, Brille und einen suchenden Blick. Jens Pluto ist hauptberuflich Rettungssanitäter und springt heute für den eigentlichen Tandempartner von Lienemann ein. Es ist sein erstes Verfahren als Ersatzschöffe.
Nachdem sie auf der digitalen Anzeigetafel die Verfahrensdetails durchgelesen haben, passieren die beiden Schöffen eine gutbesetzte Sicherheitskontrolle. Zielsicher steuert Lienemann Saal 3 an, in den er einen kurzen Blick wirft, bevor er mit seinem Kollegen im Beratungszimmer nebenan verschwindet. Dort werden sie gleich mit Richter Buchen eine Vorbesprechung abhalten. Es ist ein kleines Zimmer, in dem ein abgenutzter Holztisch, drei blau gepolsterte Stühle und ein leerer Schrank stehen. Das Einzige, was auf die hier stattfindenden Entscheidungen hinweist, sind zwei dicke Bücher, die auf dem Tisch liegen: ‚Strafgesetzbuch‘ und ‚Straßenverkehrsrecht‘ verlauten die Titel.
Schon vorhin im Foyer hatte sich Lienemann über den Zustand des Beratungsraums beschwert: „spartanisch und altbacken, wenn man das mal so sagen darf“. Jetzt im Zimmer angekommen, fällt ihm eine weitere Salve an Adjektiven ein: „jämmerlich, öde, fast bemitleidenswert“, schmunzelt er. Später werden die drei Herren trotzdem mit der Autorität der Entscheidenden aus dem Raum treten.
Prozessthema: schwere Körperverletzung
Die Entscheidung – sie fällt heute im Fall von zwei Männern, denen vorgeworfen wird, vor zwei Jahren mit einem Messer auf einen Mann eingestochen zu haben. Viele der Hinweise seien jedoch unsicher. Eine möglicherweise aus Rache falsch gemachte Zeugenaussage, fremdes Blut an einem Messer, schwammige Funkzellenauswertung. Darauf, ob es neue Hinweise gebe, sei er besonders gespannt, erzählt Lienemann.
Im Verhandlungssaal, einem schlichten Raum mit vorgezogenen Gardinen, haben sich die ersten Menschen eingefunden. Die Staatsanwältin und ihre Kollegin auf der einen Seite, die Verteidigung und der Tatverdächtige T. auf der anderen. Eine Dolmetscherin, die für den jetzt mit Handschellen in den Raum geführten Tatverdächtigen A. ins Persisch übersetzen wird. A. sieht müde aus, aber als sein Blick die Besucherbänke streift und er dort ein Paar sitzen sieht, lacht er kurz: „Guter Mann!“ Nachdem sich die drei Richtenden gesetzt haben, läuft das Verfahren in typischer Gerichtsmanier an. Es werden bekannte Daten verlesen, übliche Ankündigungen gemacht, die Polizeimeldung durchgegangen. Die Tür öffnet sich, und der nachbestellte Zeuge, ein breiter, schwarzgekleideter Mann, tritt mit zwei Justizbeamten ein.
Stattdessen leugnet er mit seiner jugendlich klingenden Stimme jegliche Erinnerung an den Tatabend. Die Augen des Richters werden hinter seiner kantigen Brille immer kleiner. Auch auszusagen, dass man sich nicht erinnern könne, obwohl man es kann, sei eine Falschaussage, erklärt er. Der Zeuge entgegnet, er wolle sich nicht belasten. Als Herr Buchen nochmal nach Details fragt, schaltet sich der Anwalt ein. Es gebe schließlich das Auskunftsverweigerungsrecht. Jetzt wird es hektisch im Gerichtssaal. Schöffe Lienemann hebt immer wieder seine Augenbrauen und legt die Stirn in Falten. Die Anwältin steht auf und pflichtet ihrem Verteidigungskollegen lautstark bei, wird aber vom Richter unterbrochen. Herr Buchen muss sich Gehör verschaffen, er entscheidet, dass solche Debatten nicht öffentlich zu führen seien. Weder Lienemann noch der Ersatzschöffe haben ein Wort gesagt. Sie sind stille Beobachter und Beurteiler im Geheimen. Zwar dürften sie, nachdem der Richter fertig ist, auch Fragen stellen, aber dazu wird es heute nicht kommen.
Die drei Richtenden ziehen sich zur Beratung zurück. Zehn Minuten später sitzt Lienemann wieder still vorne und hört aufmerksam zu, wie Buchen die Entscheidung des Trios verkündet: Der Zeuge soll nicht mehr weiter verhört werden. Justizbeamte führen ihn aus dem Raum.
Zeit für ein Urteil
Wieder verlassen alle den Raum. Nun haben Schöffen und Richter zwanzig Minuten Zeit, sich auszutauschen. Schöffe Lienemann erklärt, in dieser Zeit werden Fall und Eindrücke besprochen. Das Redeverhältnis im Beratungszimmer sei – im Gegensatz zu der Situation in der Verhandlung – ausgeglichen. Schließlich gilt es, sich zu einigen, ob die Angeklagten für schuldig oder unschuldig erklärt werden und was das Strafmaß sein soll.
Das Urteil steht fest. „Wir haben Indizien aber nicht eine Überzeugung, die vernünftigen Zweifeln Schweigen gebietet“, erklärt Buchen und meint damit: Die Täterschaft konnte nicht nachgewiesen werden. Beide Angeklagten sind freigesprochen. Die Versammlung ist beendet. A. verdrückt sich ein paar Tränen, strahlt seine Anwältin an und gibt seinem Kumpel aus dem Publikum ein High five. T. bleibt noch länger sitzen, er bedankt sich bei seinem Anwalt.
Wie verfahren nach dem Verfahren?
Lienemann, Pluto und Buchen bleiben vorne stehen, sie unterhalten sich leise und verabschieden sich bald. Lienemann scheint nicht ganz zufrieden mit dem Ausgang des Verfahrens zu sein. Es wurde schlampig ermittelt, seufzt er, und der größte Fehler sei gewesen, dem Zeugen keine Vertraulichkeit zuzusichern. Er hätte etwas gewusst, da ist sich der Schöffe sicher, hätte nur Angst gehabt – vor irgendwem. Bisher hatte Bernd Lienemann nach Urteilen Klarheit, das Richtige entschieden zu haben. Es hatte meist ein Geständnis gegeben oder die Beweislage war sehr eindeutig. Heute aber konnte die Wahrheit nicht ermittelt werden. Alles bliebe ein großes Fragezeichen.
Etwas Positives habe das Verfahren aber doch. So ein Freispruch sei total selten, sagt Lienemann, das habe er von Buchen gelernt. Höchstens zwei bis drei Mal in einer Amtszeit käme das vor. Es ist also auf jeden Fall ein Prozess, den er nicht vergessen werde, sagt der Schöffe und lacht. „In meinem Ehrenamt“, schwärmt er, „kommt immer das pralle Leben auf mich zu.“ Nachdem er sich knapp verabschiedet hat, läuft er schnellen Ganges den Flur herunter. Die Arbeit im Steuerbüro ruft.
Alle in der Reportage verwendeten Fotos und Zeichnungen wurden von der Autorin selbst erstellt.