Ballett 3 Minuten

Eine Reise bis an die Spitze - Wie international ist Ballett?

Friedemann Vogel tanzt im Stuttgarter Ballett.
Friedemann Vogel ist einer der wenigen Principal-Tänzer*innen, die noch immer in ihrem Geburtsland tanzen. | Quelle: Stuttgarter Ballett
05. Juni 2025

Von Paris bis Moskau – wer es auf die großen Ballettbühnen schafft, tanzt nicht nur mit Talent, sondern im richtigen Netzwerk. Besonders Stuttgart überrascht mit internationaler Offenheit. Wie dieses Netzwerk Karrieren formt und warum Herkunft dabei nicht alles ist, zeigt das Beispiel Friedemann Vogel.

Ballett zieht Tänzer*innen aus aller Welt an und verbindet immer wieder neue Kulturen, Stile und Arbeitsweisen miteinander. Schon der gebürtige Südafrikaner John Cranko hat das in seiner Karriere als Choreograf und Direktor des Stuttgarter Balletts vorgelebt. Er absolvierte seine Ausbildung in Kapstadt, war Choreograph in London beim Royal Ballet und gründete schließlich die weltweit bekannte Compagnie des Stuttgarter Balletts – ein Ensemble, das unter seiner Leitung Tänzer*innen aus aller Welt anzog.

Auch heute noch führt der Weg vieler Spitzentalente über Ländergrenzen hinweg. Getrieben vom Traum, einmal als Principal auf den großen Bühnen dieser Welt zu stehen, nehmen sie diesen Weg auf sich. Friedemann Vogel gehört zu denen, die es bereits geschafft haben. Er ist Principal-Tänzer am Stuttgarter Ballett.

Von Stuttgart in die Welt: Friedemann Vogel und die universelle Sprache des Tanzes

Der Tänzer Vogel, der in Stuttgart geboren wurde, hat bereits in Ländern auf der ganzen Welt gearbeitet. Wettbewerbe in der Schweiz und in Kanada, eine Ausbildung  in Monaco und Gastauftritte um den ganzen Globus. „Diese Erfahrungen sind immer bereichernd, weil man lernt, wie andere Compagnien oder Kolleg*innen arbeiten“, sagt er. Dennoch blieb er dem Stuttgarter Ballett stets treu. Tatsächlich ist er der einzige Principal-Tänzer im Ensemble, der in Deutschland geboren wurde. 

Er tanzt also heute im eigenen Land, doch sein Weg dahin war international geprägt: „Ich glaube nicht, dass ich heute die gleiche Karriere hätte, wenn ich nur an einem Ort geblieben wäre“, sagt Vogel. Ohne diese Auslandserfahrungen hätte er sich nicht so weiterentwickeln können.

Was sind Principal-Tänzer*innen?

Principal-Tänzer*innen haben die höchste Position im Ballett, welche ausschließlich durch hartes und vor allem unermüdliches Training zu erreichen ist Außerdem sind sie durch verschiedene Ränge (z.B. vom Gruppentänzer*in über die Rolle als Solotänzer*in bis hin zum Principal) aufgestiegen. Principals haben zum einen nahezu technische Perfektion erreicht. Zum anderen haben sie gezeigt, dass sie den Charakter, den sie verkörpern, nach außen tragen können. Neben ihren künstlerischen Fähigkeiten sind sie die Führungspersönlichkeiten unter den anderen Tänzer*innen im Ensemble. 

In einer Branche, in der Tänzer*innen und Choreograf*innen aus der ganzen Welt kommen, um Teil der renommiertesten Balletthäuser zu sein, sticht Vogel heraus. Das liegt nicht nur an seinem internationalen Renommee, sondern auch daran, dass er als deutscher Tänzer eine Ausnahmeerscheinung darstellt – gerade an einem deutschen Haus wie dem Stuttgarter Ballett, dessen Ensemble heute fast ausschließlich aus internationalen Künstler*innen besteht. Vogel beschreibt Ballett als eine „universelle Sprache der Kommunikation“ – eine Sprache, die unabhängig von Nationalität oder Herkunft verbindet. Die Vielfalt erlebt er als Bereicherung. Laut Vogel lerne man voneinander: neue Tanzstile oder Trainingsarten. Tanz verbinde, findet er. Denn egal, welche Nationalität oder Herkunft, Ballett bilde eine globale Gemeinschaft, die eng miteinander verknüpft sei.

Friedemann Vogel tanzt als einziger in Deutschland geborener Principal im Stuttgarter Ballett.

Die Rolle der Ballettschulen und der internationalen Ausbildung

Christina Thurner, Tanzwissenschaftlerin der Universität Bern betont: „Zumindest in der frühen Karrierephase ist es im Ballett sicher wichtig, Erfahrungen in verschiedenen Ensembles zu sammeln.“ Denn nur durch den Wechsel in unterschiedliche Compagnien, so Thurner, lässt sich ein Gespür für vielfältige Stilrichtungen, Arbeitsweisen und Tanzsprachen entwickeln. Diese Offenheit prägt letztlich auch die künstlerische Identität.

„Zumindest in der frühen Karrierephase ist es im Ballett sicher wichtig, Erfahrungen in verschiedenen Ensembles zu sammeln.“ 

Christina Thurner

Denn wer als Tänzer*in wachsen wolle, müsse sich immer wieder auf verschiedene Arbeitsweisen und Kulturen einlassen, ergänzt sie. Die Gründe für internationale Mobilität seien vielfältig. Thurner erzählt, der Beruf sei von Natur aus international: „Das hängt sicherlich damit zusammen, das Tanz vorwiegend eine nonverbale Kunstform ist, die im Unterschied etwa zum Schauspiel nicht an eine bestimmte Sprechsprache gebunden ist.“ Tänzer*innen seien auf der Suche nach Inspiration, neuen Bewegungssprachen, einem breiteren Repertoire und schlichtweg Jobs. Während Thurner sich als Tanzwissenschaftlerin vor allem in Bereichen der Ballettgeschichte und -ästhetik auskennt, hat Jason Beechey sehr viel Erfahrung bezüglich der praktischen Umsetzung im internationalen Tanzbetrieb. Er ist Direktor der Zürcher Tanzakademie und Leiter des Bereichs Tanz an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), einer der führenden Ausbildungsstätten für zeitgenössischen und klassischen Tanz in der Schweiz. Zuvor war er 18 Jahre lang Direktor der Palucca Hochschule für Tanz in Dresden. Er erhielt seine Ausbildung in Kanada, Russland und den USA. Außerdem tanzte er beim London City Ballet als Solist und war 15 Jahre lang bei Charleroi/Danses in Belgien. Beechey erzählt: „Die Wahl des Landes ist meist zweitrangig, entscheidend ist das künstlerische Profil der Compagnie oder der Choreograf*innen. Schon früh entscheiden sich viele für eine bestimmte Ausbildungsstätte mit klarem Profil und Schwerpunkt – und schlagen dort oft neue Wurzeln, bleiben also auch beruflich dort.“ 

Internationale Vielfalt im Ballettnetzwerk

Ein Blick auf die größten und renommiertesten europäischen Ballettschulen und -Compagnien zeigt deutliche Unterschiede in der kulturellen Zusammensetzung ihrer Ensembles. Das Royal Ballet in London, das Stuttgarter Ballett, die Opéra national de Paris, Dutch National Opera and Ballet in Amsterdam, das Bolshoi Ballet in Moskau und das Mariinsky Ballet in St. Petersburg stehen jeweils für spezifische nationale Traditionen – und doch sind sie alle Teil eines globalen Netzwerks des Balletts, das zunehmend international geprägt ist.

Das Netzwerk zeigt die Principal-Tänzer*innen aus Europa und die Institutionen, an denen sie getanzt haben. | Quelle: Flourish

Zwei kontrastreiche Institutionen

Das Stuttgarter Ballett, das in den 1960er-Jahren unter John Cranko internationale Aufmerksamkeit erlangte, gilt heute als besonders vielfältig: Tänzer*innen unterschiedlichster Länder sind Teil des Ensembles. Rund 93 Prozent der aktuellen Compagnie-Mitglieder stammen nicht aus Deutschland – ein klares Zeichen für die globale Ausstrahlungskraft der Institution. Auch die John Cranko Ballettschule in Stuttgart genieße nicht nur wegen ihrer hohen Standards, sondern auch wegen ihrer vielen inspirierenden Absolvent*innen einen exzellenten Ruf. Sie ziehe Talente aus der ganzen Welt an und stehe in engem Kontakt zum Stuttgarter Ballett, so Beechy. Dafür kann die Stuttgarter Ballettinstitution nicht solch eine Tradition vorweisen wie die Pariser Konkurrenz. 

Die Opéra national de Paris besteht im Gegensatz zum Stuttgarter Ballett nur zu 18 Prozent aus ausländischen Tänzer*innen. Grund dafür ist: Frankreichs Liebe zur Tradition. Dabei sind sich Beechey und Thurner in ihrer Vermutung einig. Ballett ist in Frankreich schon Jahrhunderte alt. Auch der Ursprung des Balletts liegt in Frankreich und nicht in Russland, wie oft angenommen wird. 1581 fand in Paris die erste Ballettproduktion statt, das „Ballet Comique de la Reine“. Dieses Erbe würden viele französische Tänzer*innen wertschätzen und weiterentwickeln wollen, denn sie wüssten, wie einzigartig es ist, so Beechey. Das zeigt sich auch im Netzwerk der Ballettinstitutionen: Während viele Schulen international vernetzt sind, bleibt das Pariser System stärker in sich geschlossen.

Von Paris bis St. Petersburg

Im Vergleich dazu hat das Ballett in London, wo die Zahl der internationalen Tänzer*innen auf Principal-Niveau bei etwa 76 Prozent liegt, eine ähnlich offene Ausrichtung wie in Stuttgart. Auch das Dutch National Opera and Ballet in Amsterdam zeigt mit rund 93 Prozent internationalen Principals eine klare globale Orientierung. Doch während die größte Vielfalt in deutschen, britischen und niederländischen Häusern zu finden ist, zeigt sich in Russland beim Bolshoi und Mariinsky Ballet eine andere Dynamik. Dort bleibt der Anteil ausländischer Tänzer*innen – ähnlich wie in Frankreich – mit Werten zwischen 25 und 44 Prozent deutlich niedriger. Spiegelt sich auch hier das tief in der russischen Kultur verankerte historische Erbe wider? In Ländern mit einer langen eigenen Balletttradition scheinen nationale Herkunft und kulturelle Identität weiterhin eine größere Rolle für die Zusammensetzung der Compagnien zu spielen.

In einem internationalen Vergleich zeigt sich, dass der Weg zum Principal in den führenden europäischen Balletthäusern unterschiedlich steil ist. An der Opéra national de Paris müssen Tänzer*innen zunächst sechs Positionen durchlaufen, um diesen höchsten Status zu erreichen. Beim Stuttgarter Ballett sind es fünf. An anderen Häusern wie dem Royal Ballet in London oder dem Dutch National Ballet in Amsterdam ist der Aufstieg zum Principal dagegen teilweise direkter strukturiert. Dort sind es häufig nur drei bis vier Stationen. Solche Unterschiede beeinflussen nicht nur das Tempo einer Karriere, sondern auch die strategische Entscheidung, in welchem Land Tänzer*innen ihre Ausbildung und Laufbahn fortsetzen möchten.

Wachstum durch Vielfalt

Auch Vogel kämpfte arbeitete sich vom Halbsolisten bis zum Principal hoch. Gab es auch Herausforderungen auf seinem Weg und im engen Kontakt mit anderen Tänzer*innen? Sprachbarrieren seien für ihn kein Problem, sogar Französisch könne er sprechen, dank seiner Jahre in Monte Carlo. „Was das Training und die Arbeitsweise betrifft, ist die Vielfalt eher belebend als herausfordernd“, sagt er. Für Vogel überwiegen die Chancen, welche die Internationalität den Tänzer*innen bietet: „Es gibt immer Raum für Verbesserungen – und der Austausch mit unterschiedlichen Herangehensweisen macht uns flexibler und lässt uns als Künstler wachsen.“ 

Dass Vogel dabei Teil eines Ballettensembles ist, dessen Geschichte von einem Choreografen wie John Cranko geprägt wurde – einem Visionär, der selbst Internationalität lebte und förderte – ist dabei sicherlich ein Vorteil. Denn Spitzenschuh und Staatsbühne sind heute vor allem eins: International. Nur in Paris bleibt man in gewisser Weise stärker den eigenen Traditionen treu – aus Stolz, nicht aus Sturheit. Der Tanz ist frei, doch seine Herkunft prägt ihn – und manchmal auch seine Richtung.

Wie sind wir bei der Netzwerkanalyse vorgegangen?

Die genannten Erkenntnisse entstanden im Rahmen eines studentischen Forschungsprojekts zur Analyse von Karrieren von Principal-Tänzer*innen an internationalen Ballettinstitutionen. Ausgangspunkt war die Entwicklung einer zentralen Forschungsfrage und Hypothesen zum Zusammenhang zwischen Herkunft, Mobilität und institutioneller Zusammensetzung in der Ballettwelt. 

Daraufhin erfolgte eine systematische Datenerhebung. Auf Grundlage öffentlich zugänglicher Ensemblebesetzungen sowie biografischer Angaben auf Webseiten wurden Daten zu den Tänzer*innen und deren Karriere-Stationen gesammelt. 

Die erhobenen Informationen wurden in Excel-Tabellen festgehalten und im Anschluss mithilfe der Software RStudio zu Teilnetzwerken erstellt und visualisiert. Dabei standen insbesondere die Anzahl der Knoten und Kanten, die Dichte der Netzwerke sowie Muster der internationalen Zusammensetzung im Fokus. Mithilfe zentraler Netzwerkmaße konnten die Institutionen miteinander verglichen werden.

Der gesamte Datensatz kann hier eingesehen werden.